2004 kamen bei einem Tsunami in Asien mehr als 230.000 Menschen ums Leben, 25.000 allein im indonesischen Banda Aceh. Ein Besuch an einem Ort, an dem die Überlebenden gelernt haben, mit der Erinnerung an das Grauen zu leben und die Zukunft in die Hand zu nehmen

Es sind diese kleinen Details, die sich manchmal erst später ins Auge schleichen. Das große Ausstellungsfoto im Tsunami-Museum von Banda Aceh vermittelt erst mal Aufbruch im Chaos. Die Fischer in ihren leuchtend gelben und orangenen Regenjacken stehen auf ihren Booten und räumen auf. Um sie herum ist Schutt, Modder, Treibholz, soviel, dass man das Wasser kaum sieht. Und dann wird es deutlich. Die dunklen Flecken sind nicht das Wasser. Es sind unzählige Leichen, die dort treiben. Eine schmerzhafte Erinnerung für die Menschen in Banda Aceh zehn Jahre, nachdem der Tsunami ihre Stadt vernichtete.

In der Moschee Baiturrahim sind Bilder dieser Art inzwischen abgenommen worden. Die braunen Klebeflecken und die Bildbeschriftungen auf den Stellwänden, die an die Katastrophe erinnern, sind die letzten Zeugen. Es ist Zeit, nach vorn zu sehen, auch auf das, was sich seit dem Tsunami in Banda Aceh verändert hat.

Auf der Suche nach diesen Spuren bin ich unterwegs in dieser Stadt am äußersten Zipfel der indonesischen Insel Sumatra. Was ist aus dieser Stadt geworden, die bis zum Tsunami wegen des Bürgerkrieges so gut wie abgeschottet von der Außenwelt war, die so muslimisch ist, dass eine Scharia-Polizei als Sittenwächter aktiv ist. Wie haben die Menschen die Toten verkraftet, wie die Hilfe von Helfern der ganzen Welt angenommen, die plötzlich anreisten? Aber vor allem möchte ich natürlich wissen, was die Hilfsmaßnahmen von Plan International bewirkt haben. Amrullah ist bei mir, ein Indonesier, dem das Lachen ins Gesicht geschnitten ist. Als Mitarbeiter von Plan Indonesien in Jakarta traf er schon Anfang Januar 2005 in Banda Aceh ein. Seine Aufgabe war es, die Mission aufzubauen und zu koordinieren.

Wir sind am Strand wenige hundert Meter hinter der Moschee und genießen den Blick auf die Küstenlandschaft. Das Wasser ist spiegelglatt, kleine Fischerboote fahren raus. Hier traf die Welle mit voller Wucht auf. So hoch wie „dreimal eine Kokosnusspalme“. Und sie kam noch zweimal wieder. Um kurz vor acht Uhr hatte morgens am 26. Dezember die Erde gebebt. Unmittelbar vor der Küste Sumatras. Gespenstisch zog sich das Wasser zurück. „Die Menschen liefen an den Strand und sammelten die Fische auf“, sagt Amrullah. „Sie waren so ahnungslos.“ Um 8.20 Uhr kam die Welle. Danach standen nur noch einige Häuser, die mit festen Fundamenten aus Stein gebaut waren, vor allem die Moscheen. Durch die Moschee Baiturrahim rollte sie einfach durch und ließ die Außenmauern stehen. Insgesamt starben in Banda Aceh etwa 25.000 Menschen. In ganz Indonesien waren es 170.000, 37.000 werden bis heute vermisst.

Auch mir ist dieser Tag vor zehn Jahren noch lebhaft im Gedächtnis. Ich saß in der Redaktion des Hamburger Abendblatts in der Politikredaktion. Am Nachmittag liefen die ersten Meldungen über den Ticker. Erst war nur von einem Erdbeben die Rede, das ganze Ausmaß der Katastrophe wurde erst Stunden später langsam deutlich.

Der damals sieben Jahre alte Surya saß mit seiner Familie beim Frühstück. Er ist der 15. von 16 Geschwistern. Das Wasser riss ihn von der Hand seiner Mutter. Er erinnert sich, dass er mit der Welle rollte. In dem Bild, das er von diesem Tag hat, glaubte er zu ertrinken. Er sah noch einmal in die Sonne, dachte an Gott und dass er nun sterben würde. Dann landete er in einem Mangobaum. Fünf Kilometer von seinem Wohnhaus entfernt. Von da an ist die Geschichte seiner Rettung von unfassbaren Zufällen geprägt.

Mit gebrochenem Bein und einer tiefen Schnittwunde am Arm traut er sich irgendwann aus dem Baum ins Wasser zu springen, wo ihn ein Bekannter seines Vaters findet und in eine Moschee bringt, wo die Überlebenden Zuflucht gefunden hatten. Einige Tage später kommt er zur Behandlung in ein Militärkrankenhaus. Dort wiederum entdeckt ihn ein Nachbar und bringt ihn zu seiner älteren Schwester. Nur vier von ihnen haben überlebt, alle anderen und die Eltern wurden nie identifiziert. Kurz danach ist es Amrullah, der Surya auf der Straße zwischen den bettelnden Kindern findet. Plan hatte im Konzert der Hilfsorganisationen in dieser Region die Verantwortung für die Versorgung der Kinder übernommen.

„Wir haben Bereiche geschaffen, in denen sie sich erholen und über das Erlebte sprechen konnten“, sagt Amrullah. Schulen wurden so schnell wie möglich wieder aufgebaut, um neben der Bildung auch eine Struktur in den Alltag zurückzubringen und auch, um sie vor Ausbeutung und Gewalt zu schützen. Surya erinnert sich daran, dass er seine Gedanken zeichnen konnte, spielen und Theaterstücke mit gestalten durfte. Er macht heute den Eindruck eines gefestigten jungen Mannes auf dem Sprung dazu, für sein Leben selbst Verantwortung zu übernehmen. Für ihn ist es mit seinem starken muslimischen Glauben verbunden, denn er möchte die Ausbildung zum Imam machen. Seine eigene Geschichte kann er sich nur mit der starken Anwesenheit Gottes erklären.

Banda Aceh ist voll mit Geschichten wie die von Surya und ich habe den Eindruck, zehn Jahre danach können die Menschen frei darüber sprechen. Sie haben sich Räume der Erinnerung geschaffen, wie das Museum oder das 2600 Tonnen schwere Stahlschiff „PLTD APUNG1“. Es lag vor der Küste, um mit seinen Dieselmotoren Elektrizität für die Stadt zu liefern. Mehr als vier Kilometer wurde es mit dem Wasser vom Meer mitten in die Stadt geschwemmt. Es hat zwei Häuser unter sich begraben und ist dennoch unversehrt geblieben. Da liegt es nun als Mahnmal und Erinnerungsstätte, in der unter anderem die 28 Jahre alte Herlina Besucher herumführt. „Es ist für mich eine Therapie“, sagt sie und zeigt vom Deck des Schiffes auf die Stelle, wo ihr eigenes Haus einmal stand.

Der Schuldirektor Saleh ist ein stolzer, zurückhaltender Mann. Stolz ist er auf seine Grundschule und die fröhlichen Kinder. Dabei hat er selbst seine eigenen beiden im Tsunami verloren und täglich blickt er gegenüber der Schule auf die Sumpflandschaft, auf dem das Dorf stand, aus dem die Kinder in die Schule kamen. Heute werden hier Mangroven angepflanzt, um die Küste vor den Stürmen zu sichern. Mehr als 80 seiner Schulkinder starben beim Tsunami, doch für die, die heute auf dem Schulhof lachen, ist die Katastrophe Geschichte. Sie haben sie noch nicht miterlebt. Saleh findet, sie verhalten sich heute anders als vor dem Tsunami. „Diese Schule war bei den Eltern und Lehrerinnen nicht sehr beliebt“, sagt Saleh. Doch in den Neubau nach dem Tsunami wurden dann alle einbezogen. Plan ließ die Kinder ihre Vorstellungen von einer Schule malen, bevor der Bau begann. Deswegen gibt es jetzt Bäume auf dem Schulhof, deswegen gibt es einen überdachten Gebetsplatz und einen Platz mit Bänken und einem Tisch. „Kinder brauchen überall eine Stimme“, sagt Amrullah. Saleh sagt, sie hätten damit auch ihr Verhalten verändert. Sie legen jetzt auch viel Wert auf Sauberkeit und reihen ihre Schuhe ordentlich vor den Klassenräumen auf. „Sie haben selbst darauf bestanden“, sagt Saleh.

Auf dem Stundenplan steht jetzt auch das Verhalten bei Erdbeben und Tsunamis. An der Schulwand sind die Evakuierungswege aufgezeichnet. Überall in der Stadt sieht man jetzt diese richtungsweisenden Schilder, die den Menschen in einer neuen Katastrophe das Überleben sichern würden.

Für Amrullah ist der Besuch in Banda Aceh eine Rückkehr in seine Vergangenheit. Er kehrt das erste Mal seit seiner Arbeit nach dem Tsunami zurück und man sieht ihm an, wie sehr auch ihn das berührt, während auf die ruhige See blickt. Der Geruch, der damals über der Stadt hing, den hat er noch Monate, nachdem er Banda Aceh verlassen hatte, in der Nase gehabt. Richtig voran mit den Aufräumarbeiten sei es erst gegangen, als aus Deutschland schweres Geräten kam, sagt er. „Manfred“, ruft ein Fischer, der uns zugehört hat. Er kann sich an den Namen eines deutschen Helfers erinnern, denn gemeinsam haben sie die Schuttberge aufgeräumt. Die Menschen von Banda Aceh haben den vielen Helfern im Tsunami-Museum auch ein Denkmal gesetzt. Sie kamen, um uns zu helfen, sagt einer. Da mussten wir uns Ihnen auch öffnen. Und gleichzeitig haben auch die Bürgerkriegsparteien Frieden geschlossen.

So lagen auch in dieser Katastrophe viele Chancen. Die Menschen von Banda Aceh haben sie ergriffen.

Maike Röttger ist seit 2010 Geschäftsführerin von Plan International Deutschland mit Sitz in Hamburg. Für die Opfer des Tsunami erhielt die Organisation vor zehn Jahren acht Millionen Euro Spendengelder.