Der türkische Staatspräsident lässt die Schulbücher ändern, weil angeblich Muslime den Kontinent vor den Europäern eroberten

Ankara. Als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kürzlich sagte, dass es schon vor Kolumbus’ Ankunft eine Moschee auf Kuba gab und dass Amerika 1178 von Muslimen entdeckt wurde, reagierten die westlichen Medien mit Gelächter. Doch er hält an seiner umstrittenen Aussage fest. „Das ist nicht meine eigene Behauptung“, sagte Erdogan am Dienstag bei der Eröffnung einer religiös geprägten Schule in Ankara. „In der Türkei und der Welt behaupten das viele renommierte Gelehrte.“ Kritikern warf er vor, Muslimen nicht zuzutrauen, dass sie Amerika hätten entdecken können.

Der Staatspräsident hatte seine These erstmals am Sonnabend bei einem Gipfel mit Muslimen aus Lateinamerika in Istanbul vorgetragen. Der Beleg dafür sei eine Moschee auf einem Berggipfel Kubas, die Kolumbus in seinen Erinnerungen erwähnt habe. Die Geschichtsschreibung rechnet dem Genuesen Kolumbus die Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 zu.

Doch dann – wenige Tage später – kam ein gewisses Interesse an den eher marginalen Quellen auf, die zur Untermauerung von Erdogans Thesen herangezogen werden könnten. Es scheint, man versteht Erdogan immer noch nicht. Was er gesagt hat, dürfte allerdings praktische Folgen haben. In diesem Fall: Seine Bemerkung war nur der Startschuss zu einer massiven „Aufklärungskampagne“ in der Türkei und der erste Schritt dazu, dass in Zukunft wohl alle türkischen Schulkinder Erdogans Visionen lernen müssen.

Bei der Eröffnung der Religionsschule in Ankara sagte Erdogan, die Schulaufsichtsbehörde habe künftig die Verantwortung sicherzustellen, dass die Kinder lernen, welche wichtigen Beiträge der Islam zur Wissenschaft geleistet habe. Inklusive der Entdeckung Amerikas. Auch die europäische Renaissance sei dem Islam zu verdanken. Da ist etwas dran: Zur Renaissance trug die Wiederentdeckung klassischer antiker Texte, Thesen und Erkenntnisse bei, die von muslimischen Gelehrten aufbewahrt und weiterentwickelt worden waren. Das christliche Mittelalter war für solch naturwissenschaftliche Begeisterung eher kein geeigneter Nährboden gewesen.

Erdogan hat also vom Grundsatz her nicht unrecht, allerdings sind manche der spezifischen Dinge, die er erwähnt, eher absurd, so die angebliche „Moschee“ auf Kuba in Kolumbus‘ Tagebuch. Kolumbus beschreibt da wohl eher eine Bergspitze, die aussieht „wie eine schöne Moschee“.

Erdogans Behauptung, Muslime hätten Amerika 300 Jahre vor Kolumbus entdeckt, stützt sich nach Erdogans Angaben auf Thesen des türkischen Forschers Fuat Sezgin. Es ist eine Nischendiskussion. Arabische Seefahrer sind ohnehin nicht die frühesten Anwärter als Entdecker Amerikas: Von Grönland aus soll als erster Europäer der Wikinger Leif Eriksson Amerika entdeckt haben – 500 Jahre vor Kolumbus. Die eigentliche Bedeutung der Dinge, die Erdogan äußert, liegt in seiner politischen Macht. Was er sagt, muss in der Türkei auch geglaubt werden, möglichst von allen. Wichtig ist letztlich nicht immer nur, was wahr ist, sondern auch, was von den meisten Menschen für wahr gehalten wird.

Dabei geht es nicht nur um Schulen: Auch die regierungstreuen Medien haben sich auf Erdogans Stichwort hin in eine massive „Aufklärungskampagne“ geworfen, um den Bürgern klarzumachen, dass nicht nur Kuba vor Kolumbus muslimisch war, sondern auch Amerika selbst. So schreibt die regierungsnahe Zeitung „Aksam“, dass „laut Studien amerikanischer Forscher“ der Islam bereits um das Jahr 650 herum auf dem amerikanischen Kontinent Einzug hielt, also nur rund 20 Jahre nach dem Tod Mohammeds. Überreste islamischer Religionsschulen (Medresen) seien unter anderem in den US-Bundesstaaten Colorado, New Mexico und Indiana gefunden worden.

„Aksam“ bezieht sich unter anderem auf einen 1994 verstorbenen Forscher namens Barry Fell von der Harvard-Universität. Der war vom Fach her Biologe, schrieb aber auch drei Bücher, in denen er darlegte, dass so ziemlich jede Zivilisation Amerika vor Kolumbus erreichte, schon seit etwa 1000 Jahren vor Christus – Ägypter, Kelten, Basken, Phönizier und andere mehr.

Er stützte sich dabei auf „Übersetzungen“ alter Inschriften auf Felsen, die von der Forschung aber überwiegend als dilettantisch und falsch angesehen werden. Er veröffentlichte seine Thesen nicht in Wissenschaftsjournalen, wo sie wohl auch abgelehnt worden wären, sondern in populärwissenschaftlichen Schriften – Kritiker nennen sie pseudowissenschaftlich. Aber möglicherweise werden türkische Kinder Fells Thesen bald auswendig lernen müssen.

Zudem warnt die staatliche Religionsbehörde in der Türkei Muslime seit dieser Woche vor Sünden in Internetforen und in sozialen Medien. Die Unterscheidung zwischen gut und böse, richtig und falsch sowie zwischen Gottgefälligem und Sünde gelte auch in der virtuellen Welt des Internets, hieß es in der Online-Version des Monatsmagazins der Behörde. Die Privat- und Intimsphäre anderer Menschen müsse respektiert werden. Ein Experte der Behörde, Bahattin Akbas, betont in dem Artikel, dass das Internet bei vielen Ehescheidungen eine Rolle spiele. Eine der Gefahren des Internets liege in der Zurschaustellung von Pornografie und Sexualität, warnt Akbas.

Die dem Ministerpräsidenten unterstellte Religionsbehörde ist in der Türkei für eine staatsverträgliche Interpretation des Islam zuständig und verwaltet alle 80.000 Moscheen im Land. Die Warnungen der Behörde machen laut der Zeitung „Habertürk“ einige Beobachter skeptisch. Das Blatt zitiert den Theologen Hayri Kirbasioglu aus Ankara mit den Worten, die Regierung versuche zurzeit, den Zugang zu sozialen Netzwerken zu beschneiden. Er frage sich, ob das Thema deshalb gerade jetzt auf die Tagesordnung komme. Nach Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan wurden 2013 YouTube und Twitter in der Türkei zeitweise gesperrt. Erdogan hat die sozialen Medien mehrmals scharf kritisiert. Eine Kolumnistin der regierungskritischen Zeitung „Sözcü“, Ayse Sucu, sagte „Habertürk“, sie verstehe die Religionsbehörde so, dass selbst die Veröffentlichung von Fotos von Frauen ohne Kopftuch im Internet als Sünde gebrandmarkt würde.