43 Prozent der Einwohner in Gaza sind jünger als 14 Jahre. Viele Eltern versuchen, den Jüngsten mitten im Chaos Normalität zu ermöglichen

Gaza. Wenn die Einschläge näher kommen, ruft Arwa Nayef ihre beiden Söhne zu sich ins Schlafzimmer. Die Kleinen dürfen dann auf dem Bett toben, eine Kissenschlacht machen oder auf dem Rücken ihrer Mutter reiten. Ist Arwas Mann Allam, 34, zu Hause, kommt auch er dazu. Die ganze Familie ist dann zusammen in einem Raum. „Damit keiner zurückbleibt, wenn das Haus getroffen wird“, sagt die 31 Jahre alte Palästinenserin leise. Alle überleben oder keiner, das ist die einzige Garantie, welche die Mutter ihrer kleinen Familie noch geben kann.

Arwa Nayef hat in Straßburg und Paris ein Übersetzer-Studium absolviert. Sie spricht vier Sprachen und arbeitet für die Uno-Entwicklungsbehörde UNDP in einer Abteilung, die mit israelischen Stellen die Einfuhr von Gütern nach Gaza regelt. Jedenfalls in Friedenszeiten. Jetzt sitzt sie auf der Terrasse vor ihrem Mehrfamilienhaus in Gaza-Stadt. Ihre Gesichtsfarbe ist erstaunlich rosig, viel geschlafen hat sie nicht. Hinter ihr liegt eine weitere Nacht, in der ihre Heimat Gaza bombardiert wurde.

Vor drei Wochen hatte Israel seine Militär-Offensive gegen den Gazastreifen gestartet, um dem Raketenbeschuss durch die Hamas ein Ende zu setzen und die Tunnel zu zerstören, mit deren Hilfe die radikalislamische Terrororganisation Anschläge planen soll. Wie immer in solchen militärischen Auseinandersetzungen ist das Leiden der Bevölkerung immens. Mehr als 1400 Tote, darunter mehr als 200 Kinder, hat der Krieg auf palästinensischer Seite bislang gekostet, 63 israelische Soldaten und drei Zivilisten wurden bisher getötet. Was aber bedeutet es, Kinder mitten im Krieg großzuziehen? Wie erklären Eltern ihren Schützlingen Sirenengeheul, Bombenhagel und das Sterben unschuldiger Menschen? Wie können sie ihnen noch das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit verleihen, wenn sie doch selbst ständig fürchten müssen, an diesem Anspruch zu scheitern?

Arwas Kinder Karim und Ibrahim sind zweieinhalb und fünfeinhalb Jahre alt. Der Ältere, Ibrahim, war erst zwei Monate, als er seinen ersten Krieg erlebte. „Jede Mutter weiß, dass schon der Alltag mit einem Neugeborenen Furcht einflößend sein kann “, sagt Arwa. Doch der jungen Mutter blieb keine Zeit, sich in Ruhe auf all die Veränderungen einzustellen, die ein neues kleines Leben mit sich bringt. Gerade ein paar Tage war ihr Erstgeborener auf der Welt, als es Bomben auf Gaza regnete. 100 Luftangriffe in wenigen Minuten. Arwa konnte nicht mehr stillen: „Es war unmöglich. Ich bin dauernd zusammengezuckt.“

Fünf Jahre später noch zuckt die Frau zusammen, wenn sie sich daran erinnert. Dennoch bemüht sie sich, ihren Kindern eine möglichst heile Welt vorzuspielen. „Ich versuche, ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass es ernst ist. Wenn es donnert, grinse ich sie an und sage: ‚Huch, na das war aber ein lauter Knall.‘“

Doch je älter die beiden werden, desto schwieriger wird das. Der fünfjährige Ibrahim verstehe jetzt zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen dem lauten Knall der Bomben und dem Tod und der Zerstörung, die diese nach sich ziehen. „Seit diesem Krieg weiß er, dass der schreckliche Lärm Konsequenzen haben kann.“ Er habe Albträume, erzählt sie. Ibrahim sieht sich selbst als Leiche und stellt sich vor, wie etwas Unerklärliches seinen Körper zerstört und nur nackte Knochen übrig lässt. Und das, „obwohl ich den Fernseher nie anmache und versuche, ihn vor den Bildern zu bewahren“, sagt Arwa.

Es ist kaum zu ermessen, was der Horror des Krieges mit den Seelen der Kinder macht. Gaza ist arm, dort sind sie den Angriffen oft schutzlos ausgeliefert. 43 Prozent der Einwohner sind jünger als 14 Jahre, und der internationalen Kinder-Organisation Save the Children zufolge zeigt fast jedes dieser Kinder Anzeichen von Traumata. Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, schätzt, dass 118.000 Kinder Hilfe brauchen.

Israel dagegen besitzt zwar Mittel und die Infrastruktur, um die Menschen besser zu schützen. Doch auch hier gehören Bombenalarm, die Flucht in die Schutzbunker und die Angst in den Gesichtern zum Alltag. Bei den Heranwachsenden hinterlässt das Spuren. Eine Studie der israelischen Bar-Ilan-Universität hat bei 37 Prozent der Kinder in den Gebieten rund um den Gazastreifen ein posttraumatisches Belastungssyndrom festgestellt. Auf beiden Seiten des Konflikts versuchen Eltern, ihren Kindern mitten in Chaos und Zerstörung so viel Normalität wie möglich zu gewähren. Doch all das hat seine Grenzen, weiß Arwa. Zu Beginn des Krieges gab es diese eine Nacht in Schudschaia. Keine Nacht hat bisher so viele Opfer gekostet, kein anderes Viertel von Gaza-Stadt hat so erbitterte Kämpfe gesehen.

Arwa war allein zu Hause. Ihr Mann Allam arbeitet als Arzt auf der Intensivstation des Shifa-Krankenhauses, der größten Klinik von Gaza. In dieser Nacht war er in die Klinik gerufen worden. Jede Hand wurde benötigt. „Ich sah, wie die Leichen auf der Straße lagen. In Stücke gehackt, entwürdigt, tot. Der Krankenwagen konnte sie nicht mehr erreichen, nur die Fliegen“, erzählt Arwa. Tränen glänzen in ihren Augen. „Der Gedanke, dass das mir, meiner Familie genauso passieren könnte, war einfach zu viel.“ Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Ihr kleiner Sohn Karim, weinte mit ihr.

Der Große jedoch umarmte sie und sagte: „Was ist passiert? Hat irgendjemand Dir wehgetan?“ Er sei so erwachsen gewesen in diesem Moment. Am Ende halfen eine kalte Dusche und die Furcht in den Augen ihrer Söhne. „Ich darf sie die Angst nicht spüren lassen. Ich muss stark sein“, sagt sie.

Neulich fragte ihr großer Sohn Ibrahim sie, wann sie wieder zum Meer gehen und im Sand spielen werden. „Wenn der Krieg vorbei ist“, versucht Arwa ihm Hoffnung zu machen. „Aber ich sehe kein Ende“, entgegnete der kleine Karim da. Karim ist zweieinhalb Jahre alt.