Israel führte bislang 1300 Militärschläge gegen die Hamas. Dabei sollen 165 Menschen gestorben sein. Im Norden des Gazastreifens fliehen Bewohner

Tel Aviv. Sechs Tage lang schien die Welt vom jüngsten Gewaltausbruch im Nahen Osten relativ unberührt. Natürlich gab es die obligatorischen Hinweise einiger Außenminister, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Doch um einen schnellen Waffenstillstand bemühte sich zunächst niemand. In den Telefongesprächen, die Benjamin Ne-tanjahu am zweiten Tag der Offensive mit einigen europäischen Amtskollegen führte, wurde dem israelischen Regierungschef ungewohnt viel Sympathie entgegengebracht. Israel habe natürlich das Recht, sich gegen den Raketenbeschuss der Hamas zu wehren, hieß es auch aus dem Außenministerium in Berlin. Und Netanjahu bemühte sich darum, diese passive Unterstützung nicht zu verspielen: Er blieb bei einem sehr vorsichtig definierten Ziel der Aktion. Nicht der Sturz der Hamas, nicht die Wiederbesetzung des Gazastreifens ist dieses Mal das erklärte Ziel des israelischen Vorgehens, sondern nur das Ende des Raketenbeschusses. Die Aktion könne noch lange andauern, warnte Netanjahu noch am Sonntagmorgen. Der Gebrauch des Konjunktivs war wohl kein Zufall. Denn es mehren sich die Anzeichen, dass die israelische Militäroffensive womöglich auch bald beendet werden könnte.

Am Montag fliegt Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in die Region und will mit Netanjahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas über einen möglichen Waffenstillstand reden. Israelische Regierungsbeamte berichten, in der kommenden Woche sei auch ein Besuch von US-Außenminister John Kerry möglich; die Chefdiplomaten Frankreichs und Großbritanniens planen ebenfalls Nahost-Visiten, um sich an den Vermittlungsbemühungen zu beteiligen. Ägypten soll bereits mit beiden Seiten im Gespräch sein, Katar soll im Hintergrund vermitteln. Auch Palästinenserpräsident Abbas könnte bei den Bemühungen eine Rolle spielen. Der hat nun schon zum zweiten Mal einen Waffenstillstand gefordert und die Hamas harsch kritisiert: Die Forderungen der Islamisten in den Verhandlungen seien „überzogen und unnötig“. Die Situation sei unerträglich geworden, sagte Abbas. „Hunderte Märtyrer und Tausende Verletzte und große Zerstörung.“

Die Hamas fordert ein Ende der Teilblockade des Gazastreifens und die Freilassung von 56 Palästinensern. Diese waren im Austausch für den entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit freigelassen worden; vergangene Woche wurden sie bei der Suche nach den Mördern von drei israelischen Teenagern wieder festgenommen. In Jerusalem weiß man, dass mit den steigenden Opferzahlen auf der palästinensischen Seite auch der internationale Druck steigen wird, die Aktion zu beenden.

Erstmals drang eine Spezialeinheit der Marine in den Gazastreifen

Bisher haben die Raketen der Hamas in Israel drei Menschen schwer verletzt und überschaubaren Sachschaden angerichtet. Der Preis, den die Israelis für den Konflikt zahlen, liegt vor allem in der Beeinträchtigung ihres Alltags. Ein Ende des Raketenbeschusses wäre ein Erfolg und in den Augen der politischen Entscheidungsträger möglicherweise einer Bodenoffensive mit israelischen Verlusten vorzuziehen.

Für die Hamas sieht das anders aus. Um ihr Gesicht zu wahren und sich als Sieger präsentieren zu können, müssen die Islamisten etwas vorweisen können. Man werde das Raketenabwehrsystem „Eiserne Kuppel“ (Iron Dome) gegen 21 Uhr auf die Probe stellen, kündigte die Terrororganisation am Sonnabendnachmittag an. Und tatsächlich schrillten um kurz nach neun im Großraum Tel Aviv die Sirenen, es waren einige Explosionen zu hören. Die „Eiserne Kuppel“ bestand den Test aber und holte alle Geschosse vom Himmel. In Gaza behauptete die Hamas kurzerhand dennoch, es habe viele Verletzte gegeben. Auf den Straßen des Flüchtlingslagers Dschabalija kam es daraufhin zu spontanen Freudenfeiern über diese Falschmeldung. Doch bei den meisten Bewohnern des Gazastreifens dürften die Islamisten mit Lügen nicht durchkommen. Bis zur Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens wird die Hamas also versuchen, einen aufsehenerregenden Anschlag mit möglichst vielen Todesopfern zu verüben. Möglicherweise möchte die Organisation es deshalb auch auf eine israelische Bodenoffensive ankommen lassen und hofft dabei auf ihre Panzerabwehrraketen.

Die Israelis hingegen scheinen keine besondere Eile zu verspüren, ihre Bodentruppen in den Gazastreifen zu schicken. Die 40.000 mobilisierten Reservisten stehen zwar bereit; auf einen Marschbefehl warten sie bisher aber noch. In der Nacht zum Sonntag drang erstmals eine Boden-Spezialeinheit der Marine in den Gazastreifen ein, um ein Waffenlager zu zerstören. Bei einem Scharmützel mit der Hamas wurden vier Soldaten leicht verwundet; drei der Hamas-Kämpfer starben.

Die Bewohner einiger Wohngebiete im Norden des Gazastreifens forderte Israel mit Flugblättern, Telefonanrufen und Kurznachrichten auf, ihre Häuser zu verlassen und sich bis zwölf Uhr am Sonntag Richtung Süden in Sicherheit zu bringen. Man plane Angriffe auf „Terroristen und die terroristische Infrastruktur“, hieß es in dem Flugblatt. Die Angriffe würden bald vorbei sein. Tausende Bewohner kamen der Aufforderung bisher nach. Sie flüchteten in Gebäude des Uno-Flüchtlingshilfwerks, obwohl die Hamas die Bevölkerung angewiesen hatte, den israelischen Warnungen nicht Folge zu leisten. Insgesamt kamen bei den israelischen Angriffen mittlerweile 166 Menschen ums Leben, etwas mehr als die Hälfte von ihnen waren Zivilisten. Israel hat in den vergangenen Tagen etwa 1300 Ziele in dem kleinen Streifen Land angegriffen.

Ein normales Leben gibt es in Gaza nicht mehr. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, von einer Nachtruhe kann keine Rede sein. Angesichts des offensichtlichen Leidens der Zivilbevölkerung mehren sich international die Rufe, Israels Luftschläge seien unverhältnismäßig und müssten beendet werden. Es kam zu ersten wütenden Demonstrationen in europäischen Metropolen wie London, Paris und Berlin. Oft wird gar behauptet, Israel nehme absichtlich Zivilisten ins Visier.

Das ist angesichts der Opferzahlen im jüngsten Gaza-Konflikt ausgeschlossen: Auch wenn jeder Tote eine persönliche Tragödie bedeutet, sind bei 1300 Angriffen bisher 85 palästinensische Zivilisten ums Leben gekommen. Die öffentliche Empörung darüber stellt vielerorts allerdings längst diejenige über die bis zu 170.000 Toten des syrischen Bürgerkrieges in den Schatten.