US-Außenminister überredet verfeindete Schiiten, Sunniten und Kurden zu gemeinsamem Vorgehen in Isis-Offensive

Bagdad/Erbil. US-Außenminister Kerry versucht im Irak zu retten, was zu retten ist. Die verfeindeten Schiiten, Sunniten und Kurden wollen angesichts des Vormarsches der Isis-Terroristen im Irak nun wenigstens gemeinsam eine Regierung bilden. Das Parlament werde am Dienstag zusammentreten, sagte Kerry dem TV-Sender ABC nach einem Besuch in den kurdischen Autonomiegebieten im nordirakischen Erbil. Dort versuchte der US-Außenminister, die Kurden davon abzubringen, sich vom irakischen Staatsgebiet abzuspalten und einen eigenen Staat zu gründen.

Kerry hatte zuvor während eines überraschenden Besuchs in Bagdad die politische Elite des Landes unter Verweis auf den Vormarsch der Isis zur Eile gedrängt: „Der Irak steht vor einer existenziellen Bedrohung, und die irakischen Führer müssen dieser Bedrohung mit der gebotenen Eile begegnen“, sagte Kerry. Die Bildung einer Regierung sei derzeit die größte Herausforderung des Landes, sagte Kerry.

Ein Militärschlag der USA im Irak ohne eine neue irakische Regierung wäre nach Ansicht von Kerry nicht zu verantworten. Es wäre „komplett und total unverantwortlich“, wenn US-Präsident Barack Obama „einfach ein paar Schläge anordnen“ würde, ohne dass diese durch eine irakische Regierung und das dortige Militär unterstützt werden könnten, sagte Kerry in dem TV-Sender CBS nach einem Besuch in den kurdischen Autonomiegebieten im Norden des Landes. Tags zuvor hatte es noch Berichte gegeben, die USA planten einen schnellen Militärschlag gegen die Isis-Milizen – möglicherweise noch vor der Bildung einer Regierung.

Am Dienstag sagte Kerry dem Sender NBC: „Wir sind nicht in der Gefechtsrolle. Wir sind nicht hier, um zu kämpfen.“ Seine Versuche, die Iraker zu einer Einheitsregierung zu bewegen, seien aber nicht etwa der Versuch, der Krise tatenlos zuzusehen. „Ich wäre nicht hier, wenn wir untätig bleiben wollten.“ Zugleich stellte Kerry klar, dass Obama das Recht habe, notfalls militärisch einzugreifen. „Der Präsident behält sich das Recht vor, Gewalt anzuwenden, wie er das überall in der Welt tut, sofern es notwendig ist.“

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und der jordanische König Abdullah II. sprachen sich für eine Regierungsumbildung im Irak aus. Sie sei sehr besorgt über die Lage, sagte Merkel am Dienstag in Berlin vor einem gemeinsamen Treffen. Wie in Syrien bringe nur eine politische Lösung eine dauerhafte Stabilisierung. Es sei wichtig, alle Religionen und alle Teile der Bevölkerung in den Dialog einzubeziehen und schnell eine Regierung zu bilden, die das auch verspreche, forderte Merkel angesichts des Vormarsches der radikal-islamischen Isis-Miliz. Nur mit einer solchen politischen Führung könne der Irak gegen Extremisten gestärkt werden. Auch Abdullah forderte eine Regierung in Bagdad, die alle gesellschaftlichen Gruppen beteilige. Sein Land hoffe auf Hilfe im Kampf gegen Terroristen, die zunehmend grenzüberschreitend arbeiteten. Merkel versprach weitere Hilfe für Jordanien, das Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Zudem forderte die Bundeskanzlerin Fortschritte bei den Nahost-Friedensverhandlungen. Dies sei heute wichtiger denn je.

Isis-Extremisten haben nach Uno-Angaben allein im Juni mindestens 1075 Menschen getötet. Die weitaus meisten waren Zivilisten. Allein in den drei nördlichen und westlichen Provinzen Ninive, Dijala und Salaheddin seien mindestens 757 Zivilisten umgebracht worden, sagte der Sprecher des Uno-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville, in Genf.

Bei der Parlamentssitzung am kommenden Dienstag sollen zuerst der Parlamentssprecher und danach der Präsident und Ministerpräsident gewählt werden. Nach den Worten eines US-Regierungsbeamten ist in Bagdad zu hören, dass die Kurden wieder den Präsidenten, die Schiiten den Ministerpräsidenten und die Sunniten den Parlamentssprecher und Vizepräsidenten stellen wollten. Bislang hätten sich die Parteien allerdings nicht auf die Kandidaten einigen können. Rücktrittsforderungen an die Adresse des umstrittenen irakischen Regierungschefs Nuri al-Maliki kommentierte Kerry in dem ABC-Interview nicht.

Kerry traf am Dienstag mehrere führende kurdische Politiker, unter ihnen den Präsidenten der Autonomieregion, Massud Barsani. Die Kurden genießen im Nordirak eine weitgehende Autonomie. So haben sie eine eigene Regierung. Zuletzt waren jedoch Rufe nach einem eigenen kurdischen Staat wieder lauter geworden. Präsident Barsani hatte vor dem Treffen mit Kerry in einem CNN-Interview angedeutet, bald die formelle Unabhängigkeit zu suchen. „Die Zeit ist reif, dass die Kurden ihre Zukunft bestimmen“, sagte er. Es sei „offensichtlich, dass die Zentralregierung die Kontrolle über alles verloren hat“. Al-Maliki sei „verantwortlich“ für die Krise und müsse zurücktreten, sagte Barsani.

Kerry reagiert mit seinem Besuch im Irak auf den weiteren Vormarsch der extremistischen Sunniten-Miliz Isis, die inzwischen weite Teile des Nordens und Westens des Landes beherrscht. Laut Medienberichten sollen Isis-Kämpfer nun auch die irakische Ölraffinerie in Baidschi vollständig eingenommen haben. Der rund 200 Kilometer nördlich von Bagdad gelegene Ort ist strategisch bedeutend. Dort steht auch ein Kraftwerk, von dem aus Bagdad mit Strom versorgt wird. Laut irakischen Medien bombardierte die irakische Armee Baidschi. Bei dem Angriff seien 19 Isis-Kämpfer getötet worden, hieß es. Das irakische Militär bekommt im Kampf gegen die Isis-Milizen zudem offenbar Hilfe von der syrischen Armee. Arabische Medien berichteten, syrische Kampfflugzeuge hätten den Ort Al-Kaim im syrisch-irakischen Grenzgebiet angegriffen. Dabei seien mindestens 18 Menschen getötet worden.