Extremisten setzen ihre Blitzoffensive fort und marschieren gegen Bagdad. Nur die Kurden könnten sie stoppen

Berlin. Schier endlos schiebt sich der Autokorso durch die Stadt. Jubelnde Kämpfer auf Pick-ups, hin und wieder Lastwagen mit Lafettengeschütz im Schlepptau, Krankenwagen, Polizeifahrzeuge, Tuppentransporter. Hunderte Fahrzeuge fahren hupend durch Mossul unter dem Jubel der Bewohner. Die islamistischen Kämpfer zeigen ihre „Eroberungen“, protzen mit ihrer Kraft. Sie gerieren sich als Freunde und Verbündete, verteilen Lebensmittel und Treibstoff und werden gefeiert wie Befreier. Allerdings nicht von allen: Bis zu 500.000 Menschen haben sich auf den Weg nach Norden in die friedlichen und rechtsstaatlich strukturierten Kurdengebiete gemacht. Es sind vornehmlich Schiiten und Christen, die eine religiös motivierte Gewaltherrschaft der sunnitischen Isis-Demagogen und ihre Brutalität fürchten.

Es ist bezeichnend für die Lethargie und Hilflosigkeit der irakischen Institutionen, dass sie selbst in allergrößter Not handlungsunfähig ist. Man muss sich das einmal vorstellen: Da erobern die islamischen Extremisten des Al-Qaida-Ablegers „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (Isis) eine ganze irakische Provinz einschließlich der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul, greifen Nachbarprovinzen an und stehen nun nur noch 50 Kilometer vor Bagdad, und der Regierungschef Nuri al-Maliki scheitert mit dem Versuch, vom Parlament den Ausnahmezustand ausrufen zu lassen. Weil das Haus nicht beschlussfähig war. Nur 128 von 325 Abgeordneten waren anwesend. Sitzung abgebrochen, Entscheidung vertagt. Und das Land brennt.

Die radikal-sunnitische Kampftruppe Isis stößt bei ihrer Blitzoffensive bisher nur auf geringe Gegenwehr. Mossul, Tikrit (die Geburtsstadt von Ex-Diktator Saddam Hussein), Falludscha – die irakischen Städte fallen nahezu kampflos an die zornigen jungen Männer mit ihren Kalaschnikows und dem Allahu-Akbar-Kampfruf auf den Lippen. Isis ist zu einem Sammelbecken der unzufriedenen, perspektivlosen, wütenden Fanatiker geworden. Aber mehr und mehr fühlen sich auch die sunnitischen Verlierer im Post-Saddam-Irak zu der radikalen Kampftruppe hingezogen. Isis wird zu einer popkulturellen Befreiungsbewegung hochstilisiert, die mit professionellen YouTube-Videos, intensiver Aktivität in sozialen Netzwerken und frommem Image Anhänger ködert. Tatsächlich aber hat sie mittels ideologischer Gehirnwäsche und, mindestens in Syrien, unfassbarer Brutalität einen islamischen Gottesstaat zum Ziel, der den anachronistischen Gesetzen einer Gesellschaft gehorchen soll, die es seit 1400 Jahren nicht mehr gibt.

Im Irak scheint Isis eine andere Taktik zu verfolgen als in Syrien, wo sie auf Abschreckung durch Folter und per Video verbreitete Enthauptungen gesetzt hat. Der Erfolg war begrenzt, weil die selbst ernannten Gotteskrieger sich damit alle anderen Gruppen der Anti-Assad-Koalition einschließlich der Freien Syrischen Armee zum Feind gemacht hat und sich in einem Zwei-Fronten-Krieg gegen sie und gegen die syrische Armee aufgerieben hat. Im Nachbarland sucht Isis offenbar die Nähe zu den Kadern, die sich seit Saddam Husseins Sturz von der Bevölkerungsmehrheit der Schiiten unterdrückt und benachteiligt fühlt. Und die alten Saddam-Getreuen, deren Strukturen aus der damals regierenden Baath-Partei sich offenbar weitgehend erhalten haben, finden in Isis nun einen mächtigen Partner, der ihnen zu alter Stärke verhelfen könnte.

Vor allem ein Mann zeichnet für das Chaos verantwortlich, in das der Irak abgleitet: Abu Bakr al-Bagdadi. Dem Isis-Chef wird zugetraut, Osama Bin Ladens Vision eines Scharia-Staates zu vollenden im strukturschwachen und zunehmend anarchischen syrisch-irakischen Wüsten-Grenzgebiet. Bagdadi ist im Begriff, dem Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri den Rang als ideologischem Führer aller Dschihadisten von Nigeria bis Indonesien abzulaufen, weil er erfolgreich im operativen Geschäft und ein echter „Qaid“, ein Feldherr sei. Die USA haben zehn Millionen Dollar Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, nennen es aber so nicht. „Für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen“ klingt besser.

Die Stärke von Isis hat viel zu tun mit der Schwäche der Regime in Damaskus und Bagdad – und der Unfähigkeit und dem Unwillen al-Malikis, die Sunniten einzubeziehen und sie an der Regierung zu beteiligen. Aber ihr Treiben ruft eine Kraft auf den Plan, die vielleicht als einzige imstande ist, dem islamistisch-baathistischen Spuk ein Ende zu bereiten: die autonomen nordirakischen Kurden. Kurdische Peschmerga-Kämpfer übernahmen bereits verlassene Stellungen der irakischen Armee in Kirkuk und sicherten vorsorglich einen Luftwaffenstützpunkt ab. Damit ergreifen sie die Gelegenheit beim Schopfe und besetzen ihre „historische Hauptstadt“ mit den riesigen Öl-Reserven. Ob sie aber auch der um ihr Überleben kämpfenden, ungeliebten Bagdader Zentralregierung beispringen werden, ist längst nicht ausgemacht.

Besorgt ist man vor allem auch in Washington. Nach mehr als zehn Jahren Besetzungszeit und großen Opfern drohen alle Bemühungen, das Land nach dem Sturz Saddam Husseins zu stabilisieren, zu scheitern. „Wir haben die Berichte gesehen und verfolgen die Angriffe genau“, erklärte der Sprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest. „Wir sind zutiefst besorgt.“ Eine Vertreterin des Nationalen Sicherheitsrates sagte dem TV-Sender CNN, Präsident Barack Obama werde laufend über die Vorgänge unterrichtet. Aber ob die USA reagieren würden – und wenn ja: wie? – darüber wurde wenig gesagt.