Auch in seinem neuen Amt als Bürgermeister von Kiew steht der Boxprofi vor großen Herausforderungen. Kiew soll Hauptstadt für alle Ukrainer sein, sagt Klitschko. Und Vorbild für andere Städte.

Kiew. Petro Poroschenko kullert ein Tropfen Schweiß über seine fleischige Wange. Diese Frage hätte nicht kommen dürfen. Wie er denn mit den prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine verhandeln wolle? „Das sind Mörder“, ruft Poroschenko ins Mikrofon. „Kein zivilisiertes Land verhandelt mit Terroristen. Und die Ukraine ist ein zivilisiertes Land.“ Mehr als 100 Reporter und Kameraleute sind zum Auftritt des neu gewählten Präsidenten in die Veranstaltungshalle im Zentrum Kiews gekommen. Und Vitali Klitschko steht neben dem neuen Präsidenten und hört dessen wütenden Worten zu.

Auch wegen Klitschko sind die Reporter hier, auch er beantwortet ihre Fragen. Manchmal faltet er die Hände zu einem Dreieck vor seinem Bauch, wie es auch Angela Merkel macht. Klitschko ist Kiews neuer Bürgermeister. Vitali Klitschko, zwei Meter groß, Box-Weltmeister im Schwergewicht, 45 Siege, 41 davon durch K.O., nur zwei Niederlagen. Viele sahen in Klitschko bereits den kommenden Präsidenten der Ukraine. Doch dann war es einige Wochen lang sehr ruhig geworden um ihn. Jetzt steht Klitschko wieder im Rampenlicht. Die Nummer eins ist er nicht geworden, wollte es nicht werden, konnte nicht. Er hört jetzt dem neuen Präsidenten zu. Ist Klitschkos Strategie aufgegangen?

Als die Menschen von Kiew im Winter auf den Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, zogen, um das Regime von Präsident Viktor Janukowitsch zu stürzen, stand auch Vitali Klitschko in ihren Reihen. Es gibt Bilder, wie er in der Menge steht, hinter ihm brennen Barrikaden, dunkler Rauch steigt auf. Immer wieder protestierte er mit, hielt Reden, drängte sich in die erste Reihe vor die Ketten der Polizisten. Die Menschen in der Ukraine rechnen ihm das hoch an. Der Boxprofi stand im Ring – gemeinsam mit den Demonstranten. Klitschko ging auf in dieser Rolle. Wer, außer ihm, könnte jetzt das Präsidentenamt übernehmen, sagten damals viele.

Dann begann die Zeit der Diplomatie. Vitali Klitschko fuhr zu Janukowitschs Amtssitz. Nach Straßenschlachten mit vielen Toten handelten die Oppositionspolitiker um Klitschko Ende Februar ein Abkommen mit Janukowitsch aus, eine Übergangsregierung sollte gebildet und die Präsidentenwahlen vorgezogen werden. Für viele ein Erfolg, ein Schritt in Richtung Neustart. Für einen gewichtigen Teil der Demonstranten auf dem Maidan galt Klitschko als Verräter. Er schüttelte die Hand des gestürzten Herrschers.

Andere politische Konkurrenten traten auf. Die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, aber auch der Schokoladenfabrikant und Oligarch Poroschenko, der schon unter Janukowitsch Wirtschafts- und Außenminister gewesen ist. Nach den Protesten auf dem Maidan waren andere Qualitäten zur Lösung der Krise in der Ukraine gefragt. Und Klitschko musste erkennen, dass er zwar gut kämpfen kann, aber andere das politische Handwerk besser verstehen. Ende März zog Klitschko seine Kandidatur für das Präsidentenamt plötzlich zurück – und unterstützte Poroschenko, der ebenfalls mit den Menschen auf dem Maidan demonstriert hatte und in den Umfragen bereits weit vor Klitschko lag.

Klitschko habe die politische Erfahrung gefehlt, um ein Land in dieser schwersten Krise zu führen, sagen manche. Zweimal hatte er bereits die Wahl zum Bürgermeister in Kiew verloren. Einige sagen, ihm habe am Ende der Mut gefehlt, die Zuspitzung der Krise zwischen Russland, dem Westen und der Ukraine sei zu scharf geworden für ihn. Für viele im Westen blieb Klitschko das Gesicht der neuen Ukraine, als er den Reformprozess schon nicht mehr anführte. Und doch erkennen andere Ukrainer hoch an, dass er nach sinkenden Umfragewerten den Weg frei gemacht hat für den aussichtsreichen Kandidaten Poroschenko. Hätte Klitschko ihm als Konkurrent Stimmen genommen, wäre womöglich weder er noch Poroschenko Präsident geworden.

Auf dem Maidan hat die neue politische Karriere Klitschkos begonnen. Und das Protest-Camp auf dem Platz im Zentrum Kiews wird seine erste Herausforderung als Bürgermeister. Noch immer wachen Demonstranten in den Zelten. Barrikaden aus Autoreifen, Holzlatten, Stacheldraht und Pflastersteinen blockieren die Hauptstraße. Doch es sind wenige geworden, Gestrandete. Ältere Männer in Uniformen sitzen vor den Zelten, manche trinken Bier. Halbstarke Jugendliche bewachen die Eingänge zum Maidan, Rechtsradikale mischen sich unter die verbliebenen Protestler.

Die meisten Kiewer wuseln durch die Innenstadt und ignorieren die Zelte. Touristen posieren für Fotos vor den Barrikaden. Und Vitali Klitschko sagt in der Halle zu den Reportern: „Der Maidan hat sein Ziel erreicht. Der Diktator ist gestürzt, wir haben einen neuen Präsidenten.“ Nach und nach müssten die Zelte nun geräumt werden. „Die Menschen wünschen sich Normalität.“

Und Klitschko gibt ein Versprechen. Er wolle sich einsetzen für ein Denkmal für die mehr als 100 gestorbenen Demonstranten auf dem Maidan – ein kluger Schachzug, denn nicht alle auf dem Platz sind gewillt, einfach so die Zelte zu räumen. „Wir bleiben hier, bis die Reformen umgesetzt sind“, sagt ein Mann. Der Maidan bleibt ihre Warnung an die neuen Mächtigen.

Klitschko war vielleicht der mächtigste Mann auf dem Maidan. Nun ist er nicht einmal unbedingt der mächtigste Mann in Kiew. In der Stadt mit knapp drei Millionen Einwohnern hat der Bürgermeister vor allem eine repräsentative Funktion. Wichtige Entscheidungen trifft der Vorsitzende der Stadtverwaltung, der direkt vom Präsidenten ernannt wird. Doch die Nähe von Klitschko und Poroschenko kann dem Boxweltmeister politischen Einfluss sichern. In seiner Rede sagt Klitschko, dass er Kiew als europäische Stadt aufbauen wolle. Er hat gute Kontakte zu deutschen Politikern, aber auch in die Europäische Union. In der Diplomatie zwischen der Ukraine, der EU und Russland können die Bindungen Klitschkos zum Westen und sein Ansehen dort als Sportler hilfreich für Präsident Poroschenko sein.

Kiew solle Hauptstadt für alle Ukrainer sein, sagt Klitschko. Und Vorbild für andere Städte. Er meint damit vor allem den Osten der Ukraine, der derzeit durch Kämpfe zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten außer Kontrolle ist. „Der Wunsch nach einem gerechten System hat die Menschen auf die Straße geführt“, sagt Klitschko. „Diese Erwartungen müssen wir erfüllen.“ Es sind präsidiale Sätze eines Bürgermeisters. „Aller Wandel geht von Kiew aus“, hatte er schon am Wahlsonntag ausgerufen.

Nur wenig aber spricht Klitschko in seiner Rede nach der Wahl von den Reformen, die sich viele Menschen in Kiew auch wünschen: bessere Verkehrswege auch in die ärmeren Vororte der Hauptstadt, günstigen Wohnraum, Stadtverwaltungen und Gerichte, die dem Prinzip des Rechtsstaats folgen und nicht der Korruption, ausreichend Arbeitsplätze. Es sind Aufgaben, die auch Politiker in anderen Hauptstädten der Welt lösen müssen. Es ist Alltag in einer Millionenstadt – abseits der Ausnahmesituation im Ringen um die Macht über die von Russland annektierte Krim und den Kämpfen im Osten der Ukraine. Im Oktober 2015 sind die nächsten regulären Wahlen zum Bürgermeisteramt. Nur 18 Monate hat Klitschko Zeit, den Alltag der Menschen in Kiew besser zu machen.