Überraschend viele Menschen trotzen bei Präsidentschaftswahl Anschlagsdrohungen der Taliban

Kabul. Erleichtert durch den vergleichsweise friedlichen Verlauf der Präsidentenwahl in Afghanistan keimt in der Bevölkerung die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in dem seit Jahren von Gewalt gezeichneten Land. Mit einer überraschend hohen Wahlbeteiligung von fast 60 Prozent trotzten viele Afghanen am Sonnabend den Drohungen der radikalislamischen Taliban. Sieben Millionen Wähler strömten an die Urnen, um sich beim ersten demokratischen Machtübergang am Hindukusch Gehör zu verschaffen. Gewählt wird ein Nachfolger für Präsident Hamid Karsai, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf. Als Favoriten für die Nachfolge Karsais gelten die früheren Minister Abdullah Abdullah, Aschraf Ghani und Salmai Rassul.

US-Präsident Barack Obama gratulierte den Afghanen zur Abstimmung. Die Wahl sei nicht nur zentral für die demokratische Zukunft des Landes, sondern auch für die weitere Unterstützung aus dem Ausland. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) brachte seine Anerkennung für den Mut und das Engagement der Menschen in Afghanistan zum Ausdruck. Der Wahl werde hoffentlich eine Voraussetzung dafür schaffen, dass auch im nächsten Jahr das Engagement der internationalen Gemeinschaft aufrechterhalten werden könne. Wie geht es nun weiter, und was für Konsequenzen hat die historische Wahl?

Wann wird ein neuer Präsident vereidigt?

Das kann im besten Fall noch im Frühjahr geschehen, kann sich aber auch bis in den Spätsommer ziehen. Die Wahlkommission (IEC) zählt zunächst die Stimmen, die Wahlbeschwerdekommission (ECC) prüft Betrugsvorwürfe. Am 14. Mai will die IEC ein amtliches Endergebnis verkünden. Für den wahrscheinlichen Fall, dass bei der Abstimmung am Sonnabend keiner der acht Kandidaten eine absolute Mehrheit gewonnen hat, ist für den 28. Mai eine Stichwahl geplant. Auch danach müssten wieder Stimmen gezählt und Vorwürfe geprüft werden.

Welche Probleme drohen bis dahin?

Am wichtigsten ist nun, dass die Wahlbetrugsvorwürfe von der ECC so aufgeklärt werden, dass das Wahlergebnis für die Afghanen und für die Kandidaten akzeptabel ist. Dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, ist unstrittig – sie waren aber ohnehin erwartet worden. Allerdings geht man bislang davon aus, dass das Ausmaß des Betrugs deutlich unter dem der Wahl von 2009 liegt.

Was bedeutet die Wahl für die Afghanen?

Für die Mehrheit der Bevölkerung, die die Taliban ablehnt, war die Wahl ein großer Erfolg – und ein Anlass zum Stolz. Die überraschend große Wahlbeteiligung verleiht der Abstimmung und damit der kommenden Regierung Legitimität. Außerdem endet mit dem ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte des Landes eine Phase der Unsicherheit – viele Afghanen fragten sich, wie es nach der Ära Karsai weitergeht. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben mit der erfolgreichen Absicherung der Wahl außerdem ihre Nagelprobe bestanden.

... und für die Taliban?

Für die Taliban ist die große Wahlbeteiligung eine schwere Niederlage. Sie hatten die Stimmabgabe zur Sünde erklärt und eine Welle von Anschlägen auf Wahllokale angekündigt. Zwar kam es zu tödlichen Zwischenfällen, den Taliban gelang es aber nicht, die Wahl zum Entgleisen zu bringen. Viele Afghanen besonders in ländlichen Gegenden bewiesen mit ihrer Stimmabgabe großen Mut. Und viele Wähler sagten ausdrücklich, sie ließen sich von den Taliban nicht davon abhalten, über die Zukunft ihres Landes mitzuentscheiden.

Bricht jetzt der Frieden aus?

Das wird nicht so schnell geschehen. Die Taliban setzten ihre Anschläge am Tag nach der Wahl fort. Aber die Abstimmung hat den Extremisten bewiesen, dass ein Großteil der Afghanen weder ihrer Propaganda folgt noch sich ihren Drohungen beugt. Ein neuer Präsident könnte eventuell Wege finden, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen. Gespräche mit Karsai lehnten die Aufständischen strikt ab.

Was bedeutet die Wahl für das Verhältnis zum Westen?

In jedem Fall einen dringend notwendigen Neuanfang. Das Verhältnis zwischen Karsai und den USA ist seit der Wahl 2009 zerrüttet, die beiden vorgeblichen Partner haben sich immer weiter entfremdet. Auch in anderen westlichen Hauptstädten gilt Karsai inzwischen mindestens als schwierig, wenn nicht als unberechenbar. Alle drei Favoriten waren früher Minister in Karsais Kabinett und sind international respektiert. Alle drei wollen gute Beziehungen zum Westen pflegen.

Was bedeutet die Wahl für den internationalen Militäreinsatz?

Unabhängig von der Wahl läuft der Kampfeinsatz der Internationalen Schutztruppe Isaf zum Jahresende aus. Eine neue Regierung dürfte aber den Weg frei machen für den geplanten kleineren Nato-Folgeeinsatz, mit dem afghanische Sicherheitskräfte ausgebildet und unterstützt werden sollen. Voraussetzung für diese Mission namens „Resolute Support“ ist ein Sicherheitsabkommen mit den USA, dessen Unterzeichnung Karsai verweigerte. Alle drei Favoriten haben angekündigt, den Vertrag zu unterschreiben.

Und was macht Karsai?

Nur einen Steinwurf vom Präsidentenpalast entfernt wird für Karsai und seine Familie ein schwer gesichertes Anwesen gebaut. Dass er ganz von der politischen Bühne verschwindet, ist unwahrscheinlich. Rassul ist ein enger Vertrauter von ihm. Sollte er gewinnen, könnte Karsai möglicherweise im Hintergrund die Strippen ziehen. Und Ghani hat angekündigt, im Falle eines Wahlsieges einen herausgehobenen Beraterposten für Karsai zu schaffen – als „Nationaler Anführer“.