Hohe Beteiligung an Afghanistans Präsidentschaftswahlen trotz Taliban-Drohungen

Die Präsidentenwahl in Afghanistan lieferte dem demokratieverwöhnten Westen eine wertvolle Lektion. Millionen Afghanen trotzten der allgegenwärtigen Anschlagsgefahr und nahmen zum Teil endlose Anmärsche in Kauf, um ihre Stimme abzugeben. Die Schlangen, die sich vor den Wahllokalen bildeten, stellen das ermutigendste Symptom für eine tief greifende Veränderung der hochkomplexen afghanischen Gesellschaft dar. Während in vielen Staaten der westlichen Welt Wahlen oft nur noch als lästige Pflichtübung betrachtet werden, die Beteiligung beunruhigend sinkt, empfinden viele Afghanen diese erste demokratische Wahl in ihrer 5000-jährigen Geschichte als eine Kostbarkeit.

Es ist den radikalislamischen Taliban, deren monströse Mutation des Islam keinerlei Formen von Demokratie und Pluralismus zulässt, nicht gelungen, mit Drohungen, Erpressungen und Anschlägen diese Wahl ernsthaft zu beeinträchtigen. Damit ist noch keineswegs garantiert, dass der labile afghanische Staat nach dem weitgehenden Abzug der westlichen Armeen einer entschlossenen Taliban-Offensive standhalten könnte. Doch es zeigt sich, dass die afghanische Gesellschaft nicht mehr dieselbe ist wie 1996, als die Fundamentalisten die Macht in Kabul übernahmen. Die fast 13 Jahre währende Anwesenheit westlicher Militärs, Diplomaten, Geschäftsleute und Hilfsorganisationen haben ihre Spuren hinterlassen.

Damit ist Afghanistan aber noch nicht auf dem Weg zu einer westlichen Demokratie. Das uralte Land mit seinen vielen, zum Teil erbittert miteinander verfeindeten Ethnien folgt nicht nur den Regeln eines rigiden Islam, sondern auch archaischen Stammesgesetzen. 70 Prozent der Menschen insgesamt, bei den Frauen sogar 90 Prozent, sind Analphabeten; die Tradition der Blutrache ist ebenso vital wie die horrende Korruption. Afghanistan wird seinen eigenen Weg zwischen Tradition und Moderne finden müssen; das ist gewiss auch das Fazit des 13-jährigen westlichen Engagements, dessen ursprüngliche, weit überzogene Ziele verfehlt wurden. Und doch hat dieses Engagement den Kristallisationskern gepflanzt, um den herum sich die Veränderung hin zu einer zumindest offeneren Gesellschaftsordnung vollziehen kann.

Gesucht wird nun ein Mann, der die Afghanen zu vereinen vermag, um den Taliban – die massive Unterstützung vor allem aus Pakistan erhalten – Paroli bieten zu können. Pakistan ist an einem stabilen, prosperierenden Afghanistan nicht interessiert – denn der Nachbar könnte sich der aufstrebenden Großmacht Indien annähern. Und dies stellt einen strategischen Albtraum für Islamabad dar.

Der scheidende afghanische Präsident Hamid Karsai, dessen Regierung es weder gelang, dem Sog der Korruption zu widerstehen noch die wirtschaftlichen Sorgen der Menschen zu lindern, hinterlässt ein schweres Erbe. Wenn sein Vertrauter und Präsidentschaftskandidat Salman Rassoul erklärt, er wolle in Karsais Sinne weiterregieren, ist dies alles andere als vielversprechend. Ex-Außenminister Abdullah Abdullah ist zwar welterfahren, hat aber das doppelte Manko, kein Paschtune, dafür aber lange Mitglied des nicht eben hoch angesehenen Karsai-Kabinetts gewesen zu sein. Und dass er sein Programm erst vorstellen will, wenn er Präsident ist, wirkt auch nicht sonderlich hilfreich. Der als brillant geltende Ökonom Ashraf Ghani hätte immerhin die fachliche Qualifikation, um die vordringlichsten Probleme des Landes anzugehen.

Doch unabhängig von den Fragen, wer am Ende Präsident wird und wie umfangreich die Versuche der Wahlfälschung waren – der moralische Gewinner ist jetzt schon das unerschrockene afghanische Volk, das sich selbst von blutigen Anschlägen nicht davon abhalten ließ, von seinem demokratischen Stimmrecht Gebrauch zu machen.