Ehemalige Ostblockstaaten sehen sich bedroht, Russland fühlt sich eingekreist, und dem Westen fehlt es an Sensibilität

Die Aufkündigung der Kooperation mit Russland durch Nato und Nasa und die militärische Stärkung Osteuropas durch die Atlantische Allianz markieren die dramatischste Veränderung in der europäischen Sicherheitsarchitektur seit 1990. Ein Kalter Krieg ist dies noch nicht, aber allemal ein kalter Frieden mit ungemütlichen Perspektiven, denn die weiteren Absichten Wladimir Putins sind undurchsichtig. Da Russland seiner inneren Wesensart nach der europäischen Welt fremd ist, da es zudem allzu stark und mächtig ist, um den Platz eines der Mitglieder der europäischen Familie einzunehmen, vermag es nur eine würdige Stellung in der Geschichte einzunehmen, indem es zum Haupt eines selbstständigen politischen Staatssystems wird und Europa in seiner ganzen Gemeinschaft als Gegengewicht dient. Dieser erhellende Satz könnte aus einer aktuellen Analyse der Motive des russischen Präsidenten stammen – doch tatsächlich findet er sich in dem 1865–67 geschriebenen Buch „Russland und Europa“ des russischen Sozialphilosophen Nikolai Jakowlewitsch Danilewski. Er lehnte den Westen mit seiner Aufklärung, dem Individualismus, dem Rationalismus und der Säkularisierung leidenschaftlich ab und setzte eine slawisch-eurasische Werteordnung dagegen.

Fast 150 Jahre nach Danilewski teilt Putin, ein moderner Zar, im Grundsatz diese Ansichten. Die Grundwerte des Westens inklusive Demokratie, Gewaltenteilung und Pressefreiheit sind ihm zutiefst fremd. Sein Turteln mit Tigern und barbrüstiges Reiten sind Symptome einer unreifen politischen Kultur, die nach wie vor dem Bild des starken Mannes huldigt und die pluralistische Zivilgesellschaft mit all ihren Kompromissen und komplexen Prozessen verachtet. Dies ist das Resultat einer Geschichte, die den Russen über die Tyranneien der Zaren und der Stalinisten bis zu Putins „gelenkter Demokratie“ wenig Raum zur emanzipatorischen Entwicklung gewährt hat.

Russland fühlt sich eingekreist. Und die westliche Staatengemeinschaft, voran die USA, hat es im Siegestaumel des gewonnenen Kalten Krieges an der gebotenen Sensibilität gegenüber den russischen Ängsten fehlen lassen. Dennoch ist die Wahrnehmung auch vieler Menschen in Deutschland eine verzerrte, wenn sie Nato und EU vorwerfen, die Krise durch offensive Ausdehnung bis vor die russische Haustür mitverschuldet zu haben.

Diese Organisationen haben sich ja nicht aggressiv ausgedehnt wie ein räuberischer Organismus – sondern Staaten des ehemaligen Ostblocks beziehungsweise der Sowjetunion haben Nato und EU auf der Suche nach Schutz und Wohlstand buchstäblich die Tür eingerannt. Die Krim-Krise hat nun alte Ängste vor Russland vor allem in Polen und auf dem Baltikum geweckt. Manche Deutsche scheinen verdrängt zu haben, dass auf Befehl des Kreml die Freiheitsbestrebungen 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei blutig niedergeschlagen wurden. Noch 1981 wurde im unruhigen Polen auch aus Angst vor einem sowjetischen Einmarsch das Kriegsrecht verhängt.

Für Putin hingegen ist die Implosion des sowjetischen Imperiums 1990 „die größte geostrategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die Wortwahl zeigt die auch der Krim-Krise zugrunde liegende, vollkommen unterschiedliche Wahrnehmung in Ost und West. Putin sammelt nun „russische“ Erde ein und beschwört die Größe Russlands – während das Land international kaum noch wettbewerbsfähig ist und immer mehr junge Russen Sehnsucht nach politischer Freiheit bekommen. Der oben erwähnte Danilewski schrieb sein Buch übrigens in der Regierungszeit von Zar Alexander II. Nachdem sich Russlands Rückständigkeit in der Niederlage im Krim-Krieg 1856 erwiesen hatte, nahm Alexander die vielleicht bedeutendsten und mutigsten Reformen der gesamten Zarenzeit in Angriff. Dies wäre auch der richtige Weg für Putin – anstatt eine Sowjetunion 2.0 anzupeilen und damit sein Land in die Isolation und Europa in eine neue Spaltung zu führen.