Die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ bedroht die Beziehungen zur Europäischen Union. In Deutschland sprechen Populisten bereits von einem Schweizer Vorbild.

Bern. Es war eine hauchdünne, aber gültige Entscheidung: Und nach dem Volksbegehren „Gegen Masseneinwanderung“ in der Schweiz beharrt die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei (SVP) auf eine zügige Umsetzung der Initiative. Es sei der Tag, an dem die Regierung von der Bevölkerung den „klaren Auftrag erhalten hat zur EU zu gehen und die Personenfreizügigkeit neu auszuhandeln“, sagte der Vorsitzende der SVP, Toni Brunner.

Die europakritische Alternative für Deutschland (AfD) will sich bei der Kontrolle der Einwanderung ein Beispiel an der Schweiz nehmen. „Unabhängig vom Inhalt des Schweizer Referendums ist auch in Deutschland ein Zuwanderungsrecht zu schaffen, das auf Qualifikation und Integrationsfähigkeit der Zuwanderer abstellt und eine Einwanderung in unsere Sozialsysteme wirksam unterbindet“, forderte AfD-Sprecher Bernd Lucke am Montag. „Auch dafür sollten gegebenenfalls Volksabstimmungen ermöglicht werden, wenn die Altparteien das Problem weiter ignorieren“, ergänzte er. Volksabstimmungen zeigten, wo das Volk der Schuh drücke und welche Probleme von der Regierung vernachlässigt würden.

Sogar die Gegner der Initiative in der Schweiz haben eingestanden, dass Probleme aus der Zuwanderung entstehen. Mit Ja votierten 50,34 Prozent der Schweizer Stimmbürger, 49,66 Prozent sagten nein. Zudem sprach sich eine Mehrheit der Kantone für die Initiative aus. Laut dem angenommenen Text muss die Schweiz nun mit der EU über die Einführung von Obergrenzen und Kontingenten für Zuwanderer aus Deutschland und anderen EU-Ländern verhandeln.

Die Regierung, die sich gegen die Initiative ausgesprochen hatte, betonte ihre Enttäuschung. Die Initiative sei unvereinbar mit dem EU-Freizügigkeitsabkommen. Der Entscheid habe „weitreichende Folgen für unsere Beziehungen zur EU“, sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga.

Die neue Verfassungsbestimmung lasse vieles ungeklärt, so etwa wie die Kontingente festgelegt werden sollen, wer sie festlegt oder wie hoch die Kontingente sein sollen. Offen sei auch, welche Branchen auf ausländische Arbeitskräfte verzichten müssten, wenn die Kontingente ausgeschöpft seien. Die Schweiz werde schon bald erste Gespräche mit der EU führen.

Auch Vertreter der Wirtschaft zeigten sich ernüchtert. Unternehmerverbände befürchten nun, dass gut ausgebildete Arbeitskräfte dem Land fernbleiben werden.

In der Schweiz (acht Millionen Einwohner) liegt der Ausländeranteil bei fast einem Viertel. In den vergangenen Jahren überstieg die Zahl der Einwanderer die der Auswanderer um jeweils rund 80.000. Die 300.000 Deutschen bilden nach den Italienern die zweitstärkste Ausländer-Gruppe im Land.

Lesen Sie hier den Text von Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld:

Es gibt diese politisch unkorrekten Witze über die Schweizer, von denen aber manche ein kleines Körnchen Wahrheit enthalten. Wie jenes Bonmot, dass die im Gletscher eingefrorene Steinzeitleiche Ötzi offenbar ein Schweizer gewesen war, da er sich vom Gletscher habe überholen lassen. Die Abneigung gegen unziemliche Hast wird als Wesensmerkmal der Schweizer angenommen, so wie die Präzision ihrer Uhrmacher und die Verschwiegenheit ihrer Bankiers, der Zürcher „Gnome“. Und das Beharren auf den ganz besonderen Traditionen dieses Bergvolkes. Mit diesen Traditionen, mit der Liebe zu den Besonderheiten ihrer Kultur hat es zu tun, dass die Schweizer den starken Zustrom von Ausländern seit Jahren mit wachsendem Argwohn verfolgt haben. Was das problematische Votum für das Volksbegehren „Gegen Masseneinwanderung“ nun eindrucksvoll demonstriert.

Das Begehren der rechtslastigen Schweizer Volkspartei (SVP), die mit rund 90.000 Mitgliedern die drittgrößte Partei der Schweiz und im Nationalrat mit 54 Sitzen stärkste Partei ist, sowie den Verteidigungsminister Ueli Maurer in der Regierung stellt, spiegelt die Angst der Schweizer vor Veränderungen wider. Knapp 24 Prozent der in der Schweiz lebenden Menschen – deren Bevölkerungszahl sich seit Beginn des 20. Jahrhundert von 3,3 Millionen auf 8,1 Millionen Einwohner mehr als verdoppelt hat – haben bereits keinen Schweizer Pass; Tendenz stark steigend.

Zum Vergleich: In Deutschland leben rund neun Prozent Ausländer. Die Eidgenossen bilden eine weltweit einzigartige Gemeinschaft, die sogenannte „Willensnation“. Sie wird nicht vom Staat verordnet, sondern dieser pflegt lediglich eine Bürgergesellschaft, deren freier politischer Wille sich von unten nach oben aufbaut. Das starke plebiszitäre Element der Schweiz mit den zahlreichen Volksabstimmungen auf diversen Ebenen hat eine Gesellschaft hervorgebracht, in der sich der Einzelne sehr viel stärker für das Gemeinwohl verantwortlich fühlt als dies in anderen Staaten der Fall ist.

Vor allem der jüngste Zuzug aus Krisenstaaten Südeuropas, in denen der Staat von seinen Bürgern oft als Gegner wahrgenommen wird, in denen Korruption und Steuerflucht grassieren, hat Befürchtungen vor einer fundamentalen Veränderung der Schweizer Gesellschaft geweckt.

Diese Willensnation basiert auch weniger auf einer gemeinsamen Sprache, wie dies in Deutschland der Fall ist, denn auf gemeinsamen Mythen wie dem sagenhaften „Rütlischwur“ von 1291 als Gründungsmythos, einer gemeinsamen Geschichte, freiheitlichen, föderalistischen und basisdemokratischen Traditionen sowie ganz einfach dem Gefühl, ein Sonderfall zu sein. Es brauchte Jahrhunderte, um eine solche Gemeinschaft heranwachsen zu lassen.

Von besonderer Bedeutung sind dabei eben die politischen Rechte und Freiheiten sowie die Eigenverantwortung der Gemeinden und der 26 Kantone. Es gibt in der Schweiz deutsche, französische, italienische und rätoromanische Sprach- und Kulturgebiete und dabei keinerlei separatistische Bestrebungen.

Der mancherorts erhobene Vorwurf, die Schweiz sei latent ausländerfeindlich, ist angesichts einer derartigen Vielfalt der Kultur und einem so hohen Prozentsatz an Ausländern im Land sicher absurd. Das politische System der Schweiz ist ebenso einzigartig wie ihre Kultur, so gibt es keinen ausgewiesenen Regierungschef, sondern ein Direktorialsystem, bestehend aus einem Zweikammerparlament – Nationalrat und Ständerat – sowie dem Bundesrat, der kollektives Staatsoberhaupt und Bundesregierung zugleich ist.

Mehr als 56.000 Deutsche pendeln Tag für Tag in die Schweiz hinein

Das Votum für die SVP-Initiative rührt nicht zuletzt auch von einem Phänomen her, das als „Dichtestress“ bekannt geworden ist. Das Unwort bezieht sich auf eine überlastete Infrastruktur, auf überfüllte Züge, Umweltschäden, verstopfte Straßen, stark gestiegene Immobilienpreise und eine zunehmend zubetonierte Landschaft. Dafür macht man nicht nur an den Stammtischen die vielen Ausländer verantwortlich. Jährlich strömen – netto, Auswanderer eingerechnet – rund 80.000 Menschen ins Land, drei Viertel davon aus dem EU-Raum. Auch 300.000 Deutsche leben bereits in der Schweiz, im Rekordjahr 2008 waren gleich 30.000 auf einmal gekommen. Und weitere 56.000 Deutsche pendeln täglich über die Grenze des deutschen Südwestens herein, um hier zu arbeiten. In Genf soll der Anteil an Ausländern bereits 48 Prozent betragen.

Die Schweizer argumentieren, dass aufgrund der Berge überhaupt nur ein Drittel ihres Staatsgebietes von gut 41.000 Quadratkilometern Fläche (Deutschland: 357.000) für eine Besiedlung zur Verfügung stehen. Es werde also sehr eng. Rein statistisch gesehen leben in der Schweiz 197 Menschen auf einem Quadratkilometer Fläche, in Deutschland sind es 226. In einem „Extrablatt“, das die SVP Anfang des Jahres an Schweizer Haushalte verschickt hatte, listete die Partei bedrohlich auf, welche gewaltigen Investitionen man bei Schulen, Kindergärten, Kraftwerken und Wohnungen tätigen müsse, um den Zustrom an Ausländern noch zu bewältigen. Das sei finanziell gar nicht zu leisten, meinte SVP-Veteran und Unternehmer Christoph Blocher, der die Partei 20 Jahre lang dominiert hat, und fügte düster hinzu: „Die Schweiz wird untergehen.“

Die Schweiz ist wirtschaftlich über 120 Abkommen mit der EU verflochten

Wirtschaftliche Schäden könnten der Schweiz nun aber vor allem aus dem positiven Votum zum SVP-Volksbegehren entstehen. Es droht der Bruch mit EU-Europa. Die Schweiz ist zwar kein EU-Mitglied, aber längst eng verflochten mit der riesigen Union. 80 Prozent der Importe bezieht die Schweiz aus der EU und liefert 60 Prozent ihrer Exporte dorthin. Rund 120 Abkommen hat die Schweiz mit der Europäischen Union bislang unterzeichnet, weitere sind in Vorbereitung. Der Dachverband der Schweizer Wirtschaft hat viel Geld ausgegeben, um die Bürger davon zu überzeugen, dass die meist gut ausgebildeten Zuzügler der Schweiz sehr guttun würden.

Die frühere Außenministerin und ehemalige Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey wird sogar nicht müde, den Schweizern einen EU-Beitritt ans Herz zu legen – was aufgrund der enorm ausgeprägten Schweizer Liebe zur Unabhängigkeit nicht so recht fruchtet. Die Erben des legendären Freiheitskämpfers Wilhelm Tell, der damals den Habsburger Herrschern trotzte, wollen sich nicht von Brüssel gängeln lassen. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Regierung warnten aber vor einer Annahme des Plebiszits. Denn die (Wieder-)Einführung von Ausländer-Kontingenten werde den akuten Fachkräftemangel in der Schweiz verschärfen. Vier von zehn Assistenz- und Oberarztstellen in der Schweiz sind bereits von Deutschen besetzt. Zwei von drei Unternehmen haben nach Ermittlung des Forschungsinstituts BAK Basel Probleme, leitende Angestellte zu finden.

Auch müsste nun das 1999 unterzeichnete Abkommen zur Personenfreizügigkeit neu aufgerollt werden, das allen EU-Bürgern außer Rumänen, Bulgaren und Kroaten freien Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt gewährt. Die Schweizer Regierung hatte auf Druck der SVP bereits die Bedingungen für einen Zuzug verschärft; so hatte sie 2013 mithilfe einer „Ventilklausel“ schon Bewilligungen für Langzeitaufenthalte von EU-Bürgern begrenzt und im vergangenen Monat EU-Bürger, die nur zur Arbeitssuche in die Schweiz einreisen, von der Sozialhilfe ausgeschlossen.

Als die EU 1999 mit der Schweiz im Zuge der „Bilateralen Verträge I“ das Abkommen zur Personenfreizügigkeit schloss, tat sie das zusammen mit sechs weiteren Verträgen, die den Warenaustausch zwischen der Schweiz und der Europäischen Union erleichtern. Brüssel baute damals jedoch eine „Guillotine-Klausel“ ein, die besagt, dass bei Bruch oder Aufkündigung eines der Abkommen auch gleich alle anderen hinfällig werden.

Die Schweiz muss nun befürchten, dass die EU diese Karte zieht. Der EU-Botschafter in der Schweiz, Richard Jones, hatte im Vorfeld des umstrittenen Volksbegehrens klar gesagt: „Die Personenfreizügigkeit ist ein Schlüsselprinzip der EU, ein Kernelement des Binnenmarktes.“ Eine Neuverhandlung dieses Abkommens komme gar nicht infrage.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wies die Schweiz nicht ohne warnenden Unterton darauf hin, dass das Land bisher immerhin einen privilegierten Zugang zu einem Markt von 500 Millionen Menschen genieße. Und Elisabeth Zölch-Bührer, Arbeitgeber-Präsidentin der Schweizer Uhrenindustrie, meinte, das renommierte „Made in Switzerland“ könne künftig als „Hergestellt im Abschottungsland“ interpretiert werden.