Der Schuldenabbau hat nicht mehr die höchste Priorität. Waffenlieferungen an syrische Rebellen entzweien die Staatschefs.

Brüssel. Pünktlich zum zweiten Tag des EU-Gipfels meldete Spanien besorgniserregende Rekorde. Auf 884 Milliarden Euro, gut 84 Prozent der Wirtschaftsleistung, ist der Schuldenstand des Landes angestiegen. Das ist mehr, als die Regierung des konservativen Premierministers Mariano Rajoy prognostiziert hatte und weit mehr als die eigentlich in der EU erlaubten 60 Prozent. Auch Italien gab Rekordschulden von 2,02 Billionen bekannt. Eine Reaktion der auf dem Gipfel versammelten Regierungschefs aber fiel aus.

Sie ließen sich den in der Nacht geschlossenen Frieden nicht zerstören.

Der EU-Gipfel verbrämte den Zwist um die Sanierung der öffentlichen Finanzen in einer Abschlusserklärung, mit der alle leben können: diejenigen, die das Sparen als Voraussetzung für die Erholung begreifen, und diejenigen, die darin eine Gefahr für die Wirtschaft sehen. Das floss in der Formulierung zusammen, die "Inangriffnahme einer differenzierten, wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung" sei die Priorität der EU. Das ist eine sachte Abkehr von der Forderung, dass Schuldenabbau ganz oben stehen müsse - und könnte die Grundlage dafür legen, dass es bei einem der nächsten Gipfel wieder kracht.

Denn während das Frühjahrstreffen nach dem Kalender des Europäischen Rates gemeinsame Leitlinien festlegen soll, wird der Gipfel im Juni dann die Schlussfolgerungen für jedes einzelne EU-Land ziehen. Mit Verweis auf den Gipfel werden so allzu harte Sparforderungen abzuwehren sein. Wie schnell sich die Einschätzung der Leistungsfähigkeit für einzelne Länder ändern kann, zeigt besonders anschaulich das Beispiel Portugal. Noch Ende Februar zeigte sich die EU-Kommission überzeugt, das Land könne bis 2014 die Neuverschuldungsgrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung einhalten. Nun, zwei Wochen später, bekommt die Regierung die Erlaubnis, sich ein Jahr länger Zeit zu nehmen. Das habe die EU-Kommission vorgeschlagen, sagte ihr Präsident José Manuel Barroso.

Die Troika der Geldgeber unterstützt in ihrem zeitgleich vorgelegten Bericht dieses Zugeständnis: "Die schwächeren Wirtschaftsaussichten erfordern eine Anpassung des Vorgehens beim Haushaltsdefizit", heißt es darin.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, "dass Haushaltskonsolidierung, Strukturreformen und Wachstum nicht etwa Gegensätze sind, sondern einander bedingen". Diese Anforderungen dürften "nicht gegeneinander ausspielt" werden. Darüber habe es auf dem Gipfel eine "sehr einvernehmliche Diskussion" gegeben. Zur Beruhigung der Nordländer fand die Formulierung Eingang in den Text, es gebe "erhebliche Fortschritte auf dem Weg zu strukturell ausgewogenen Haushalten, und diese Fortschritte dürfen nicht abreißen". Die verschuldeten Länder können sich damit auf eine Lockerung der Zügel freuen: Der "Bedarf an produktiven öffentlichen Investitionen" soll "mit den Zielen der Haushaltsdisziplin in Ein- klang" gebracht werden.

Krippenplätze könne Italien etwa nun schaffen, ohne dass die Ausgaben hart auf die Neuverschuldung durchschlagen - freilich nur, weil man sie herausrechnet. Es sei nur angemessen, dass Italien ein wenig Bewegungsfreiheit für Investitionen bekomme, sagte Merkel. Der Schrecken des italienischen Wahlergebnisses steckte den Regierungschefs noch in den Knochen: Mario Monti abgewählt, der sich als tapferer Reformer präsentiert hatte. Diese Erfahrung verband sich mit den Forderungen von Frankreichs Präsidenten François Hollande, weniger forsch voranzugehen bei der "wirtschaftlichen Anpassung", also den Strukturreformen und der Etatsanierung. Wenn das zu schnell gehe, "wird es eine Ablehnung geben, nicht nur der jeweiligen Regierung, sondern von ganz Europa".

In der Nacht hatten die Regierungschefs turnusgemäß noch als Euro-Gipfel getagt, ohne die Kollegen, die andere Währungen in ihrem Portemonnaie tragen. Um Fragen wie die schwierige Rettung Zyperns ging es dabei nach Auskunft eines Diplomaten nur am Rande. Die Chefs gaben sich eine Geschäftsordnung - und schufen damit, was der Währungsunion wohl nicht schadet: Der zehnte und letzte Punkt der schlanken Regeln gibt der Welt eine Brüsseler Adresse bekannt, unter der "Korrespondenz an den Euro-Gipfel adressiert werden soll". Doch nicht nur die Finanzen und der Haushalt beschäftigen die Politiker in der EU derzeit. Auch der Bürgerkrieg in Syrien wird heftig diskutiert. Großbritannien und Frankreich beißen mit ihrem Vorstoß zur Aufhebung des Waffenembargos gegen die syrischen Rebellen bei den EU-Partnern auf Granit. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte am Freitag in Brüssel vor den Konsequenzen für die ohnehin fragile Region und deutete an, dass die EU bei dem Thema gespalten bleiben werde. Ein Vorpreschen Großbritanniens und Frankreichs könne nicht ausreichen, um zu sagen, "nun müssen 25 andere folgen", erklärte sie. "Dies wird auch nicht so sein."

In EU-Kreisen hieß es, außer Großbritannien und Frankreich sei eigentlich niemand für die Aufhebung des Waffenembargos. Ein Alleingang der beiden zeichne sich nach den Gesprächen in Brüssel nicht ab.

Syrien drohte unterdessen mit Angriffen auf Rebellen, die im Libanon Unterschlupf suchen. Das syrische Außenministerium beschwerte sich laut einer Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur Sana bei der libanesischen Regierung darüber, dass in den vergangenen Tagen eine große Zahl von Kämpfern aus dem Nordlibanon die Grenze überquert hätten. Es sei zu Kämpfen mit vielen Toten gekommen.

Im Libanon wachsen die Befürchtungen, in den Bürgerkrieg im Nachbarland hineingezogen zu werden. Das Land mit seinen vier Millionen Einwohnern, das zwischen 1975 und 1990 selbst einen blutigen Bürgerkrieg ausfocht, hat Schätzungen zufolge mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Der Konflikt in Syrien hat die Spannungen zwischen Christen, Sunniten und Schiiten im Libanon verschärft.