Mehr Demokratie oder scheitern: EU-Parlamentspräsident Martin Schulz umreißt in einem Buch seine Vision von der Gemeinschaft.

Hamburg. Noch nie war die Europäische Union (EU) so umstritten: Nach fünf Jahren Krise gilt sie vielen als Auslaufmodell, als Inbegriff ausufernder Bürokratie, als Wohlstandsgrab. Der Euro steht auf dem Spiel. Erstmals besteht die reale Möglichkeit, dass das Projekt Europa scheitert. Aber welche Folgen hätte das? Martin Schulz, der ebenso streitbare wie respektierte Präsident des Europäischen Parlaments, zeichnet in seinem Buch "Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance" (Rowohlt Verlag, 19,95 Euro) ein realistisches und auch beunruhigenderes Szenario: Der europäische Binnenmarkt könnte zerfallen, die Arbeitslosigkeit weiter steigen, Europas Staaten wären den USA oder Schwellenländern wie China hoffnungslos unterlegen, während von innen ein neuer Rechtspopulismus droht.

Martin Schulz nimmt den Europaskeptikern die Illusionen und plädiert für eine echte europäische Demokratie, ein starkes Europa, dessen soziale Gerechtigkeit weiterhin weltweit als Vorbild gelten kann. Nur wenn wir unsere Errungenschaften selbstbewusst verteidigen, können wir unseren Wohlstand sichern und unseren Kontinent vor der Bedeutungslosigkeit bewahren. Das Abendblatt hat mit Martin Schulz (SPD) über sein Buch gesprochen.

Hamburger Abendblatt: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Martin Schulz: Weil ich mir Sorgen mache um Europa. Die EU ist in einem schlechten Zustand, und deshalb wird sie von vielen Leuten zu Recht kritisiert. Im Buch geht es mir darum, Probleme aufzuzeigen, gleichzeitig aber zu sagen, dass eine andere, eine bessere EU möglich ist.

Der Titel klingt sehr pessimistisch. Wollen Sie die Leser damit aufrütteln?

Schulz: Ich bin ein optimistischer Mensch, aber seit fünf Jahren sprechen wir permanent darüber, dass Europa in einer Krise ist. Schuldenkrise, Euro-Krise, Europakrise - so geht es im Stakkato! Das führt bei vielen Menschen dazu, dass sie mehr und mehr Zweifel bekommen, ob unser politisches System diesen Herausforderungen überhaupt noch gewachsen ist. In Südeuropa, wo teilweise eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent herrscht, ist die Erosion der Gesellschaften schon deutlich spürbar. Da müssen wir jetzt schnell etwas tun.

Sie plädieren für echte europäische Demokratie. Wie soll die aussehen?

Schulz: Ich will Klarheit, damit jeder die Entscheidungen in Europa nachvollziehen und zuordnen kann: Da, wo die Europäische Union zuständig ist, soll sie durch eine europäische Regierung handeln. Heute nennen wir diese noch Kommission. Der Chef der Kommission muss bei der Europawahl mit seinem Programm antreten und dann vom Europaparlament gewählt werden. Hierdurch könnte man diejenigen abwählen, mit denen man nicht einverstanden ist, weil der Kommissionspräsident nicht mehr wie bisher hinter verschlossenen Türen von den Regierungschefs ausgekungelt wird. So haben die Bürger dann die Wahl zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen, wie Europa aussehen soll und was es tun und was lassen sollte. Ich finde, dass die EU sich aus manchen Bereichen raushalten muss. Die Kommission hat zum Beispiel ein Problem mit den deutschen Sparkassen und mit dem VW-Gesetz, obschon das historisch gewachsene und gut funktionierende Spezifika sind. Das wäre ein echter Neustart für die europäische Demokratie.

Wie würden Sie den Inhalt ihres Buchs kurz umreißen?

Schulz: Ich habe eine klare These: Alles, was wir in den letzten 60 Jahren in Europa erreicht haben, ist umkehrbar. Wir können den Euro aufgeben, die Grenzen wieder hochziehen und den Binnenmarkt auflösen. Es gibt also eine Alternative zur europäischen Einigung. Das ist aber eine Alternative, die zu weniger Wohlstand, weniger Sicherheit und neuem Unfrieden führen würde. Deswegen plädiere ich dafür, die EU zu verändern, aber nicht die Idee der europäischen Zusammenarbeit aufzugeben. Denn ansonsten werden wir im 21. Jahrhundert in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.