Ägyptens Präsident wollte beim Besuch Wirtschaftshilfe für sein Land - doch die Kanzlerin möchte erst demokratische Fortschritte sehen.

Berlin/Kairo. In seiner Heimat Ägypten haben viele seiner Landsleute nicht verstanden, dass Mohammed Mursi trotz Ausnahmezustands, Notverordnungen, gewalttätiger Krawalle und Toten auf den Straßen des Landes eine Auslandsreise nach Deutschland antreten konnte. Dass der 61-jährige Präsident von Gnaden der islamistischen Muslimbrüder es dennoch getan hat - gleichwohl aber eine im Anschluss geplante Visite im Nachbarland Frankreich absagte -, spricht Bände über das ägyptisch-deutsche Verhältnis und über den Stellenwert, den Deutschland für die Ägypter einnimmt.

Mursi wäre gern als Freund gekommen, mit offenen Armen und freundlichen Worten empfangen worden. An Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lag der etwas unterkühlte Empfang in Berlin sicherlich nicht. Sie ließ dem Gast aus Kairo alle Ehren hoher Staatsgäste angedeihen: roter Teppich, militärische Ehrenformation, Nationalhymnen, gespielt vom Stabsmusikkorps der Bundeswehr. Dass sie ihn nicht umarmte, mag dem Umstand geschuldet sein, dass Muslimbrüder sich von Frauen in der Öffentlichkeit niemals umarmen lassen würden. Aber zu viel Nähe sollte eben auch nicht sein.

Empfang, Gespräch, Habitus - all das darf wohl als professionell bezeichnet werden. Mursi ist nun einmal das demokratisch legitimierte Staatsoberhaupt eines wichtigen, wenn nicht des wichtigsten Landes im arabisch-islamischen Raum. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hatte zuvor schon die diplomatische Marschroute ausgegeben: "Ich rate uns, geben wir der Revolution in Ägypten - bei allen Bildern, die uns schockieren - dennoch eine Chance", sagte er im ARD-"Morgenmagazin". Die deutsche Unterstützung für Mursi sei an Bedingungen geknüpft. "Die Transformationspartnerschaft, die wir angeboten haben, hängt klar davon ab, dass auch die demokratische Entwicklung in Ägypten vorwärtsgeht", sagte der Außenminister. Entscheidend seien letztlich nicht die Worte, sondern die Taten. Also kein diplomatischer Ritterschlag, sondern eher ein politischer Spagat zwischen Pragmatismus und Einhaltung des eigenen Wertekanons.

Das ist schwierig genug an einem Tag, an dem der Deutsche Bundestag der Machtübergabe an Adolf Hitler vor 80 Jahren gedenkt und die deutsch-israelische Schriftstellerin Inge Deutschkron in ihrem Vortrag "Zerrissenes Leben" an jene schmerzhafte Zeit erinnert, in der sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter jahrelang in Berlin verstecken musste, um Deportation und Holocaust zu entgehen (siehe Seite 7).

Schwierig deshalb, weil Mursi sich im Jahr 2010 durch offen judenfeindliche Äußerungen als Antisemit zu erkennen gegeben hatte. Damals sagte er in einem Interview, Juden seien "Blutsauger und Kriegstreiber, Nachfahren von Affen und Schweinen". An anderer Stelle sagte er: "Meine Brüder, wir dürfen nicht vergessen, unseren Kindern und Enkelkindern den Hass auf die Zionisten und die Juden beizubringen. Mit diesem Hass müssen wir sie füttern, er muss erhalten bleiben."

Bisher hat er diese Äußerungen nicht zurückgenommen, sondern nur gesagt, die Äußerungen seien aus dem Zusammenhang gerissen worden. Natürlich gab es Misstöne in Berlin, aber nicht nur deshalb. Schon beim Empfang vor dem Kanzleramt mühten sich Demonstranten lautstark, die Hymnen zu übertönen mit ihren Mursi-kritischen Parolen. Etwa 30 Aktivisten der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigten in deutlich drastischer Art ihre Missbilligung: Mit zwei übergroßen Abbildungen des weltberühmten Nofretete-Kopfes protestierten sie vor dem Bundeskanzleramt gegen den Antrittsbesuch Mursis und gegen die Unterdrückung von Demokratie und Freiheit in Ägypten. Auf einem der bemalten Pappschilder trägt Nofretete eine Gasmaske, auf dem anderen eine blutgetränkte Augenbinde. Aktivisten der Gesellschaft für bedrohte Völker setzten sich für die Gleichberechtigung der christlichen Kopten ein, die rund zehn Prozent der 83 Millionen Ägypter ausmachen. Exil-Ägypter klagten Mursi an, dass unter seiner Führung Menschenrechtsverletzungen genauso begangen würden wie unter dessen gestürztem Vorgänger Husni Mubarak.

Mursi hat ein starkes wirtschaftliches Interesse an Deutschland, das nach den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien der drittwichtigste Handelspartner Ägyptens ist. Seine Blitzvisite in Berlin wurde in Kairo mit der traditionellen Freundschaft beider Länder - und mit dem katastrophalen Zustand der eigenen Wirtschaft - begründet. Die Deutschen sollen helfen. 120 ägyptische Geschäftsleute begleiteten den Präsidenten.

Der Suezkanal ist nach dem Einbruch im Tourismusgeschäft wichtigste und nahezu einzige nennenswerte Devisenquelle. Die derzeitigen Unruhen sind im Kern sozialer Natur, weil es den Menschen noch immer schlecht geht. Die Hälfte der Ägypter muss von etwa zwei Dollar am Tag leben, die Arbeitslosenzahlen steigen immer weiter. Das Land am Nil braucht Investitionen und Devisen, das Verteidigungsministerium warnt vor einem Kollaps des Landes. Das Golfemirat Katar sprang bereits im vergangenen September ein mit einem Kredit über zwei Milliarden Dollar und verhinderte einen Staatsbankrott. Doch die Hoffnung auf zusätzliches Geld aus Deutschland erfüllte sich nicht.

Und während der ägyptische Präsident in Berlin weilte, kam es in seiner Heimat bei Demonstrationen zu neuen Gewaltausbrüchen mit Toten und Verletzten. Protestierende warfen in Kairo Steine und Brandbomben auf die Polizei. Zwei Demonstranten kamen ums Leben. Die Gewalt konzentrierte sich auf das Stadtviertel zwischen Nil-Ufer und Parlament, in dem auch die US-Botschaft liegt. Sie blieb erneut geschlossen. Auch in den drei östlichen Provinzen, für die Mursi nach den schweren Krawallen vom Wochenende für einen Monat eine nächtliche Ausgangssperre verhängt hatte, gingen die Menschen in der Nacht wieder auf die Straße.