Die Wähler befinden über eine neue Verfassung, die die Scharia verbindlich machen soll. Woher kommt das “religiöse Gesetz“ des Islam?

Es geht ums Ganze. Nicht nur um ein paar einzelne Gesetze, sondern um die Verfassung, die Grundlage des Staates. Nach der Arabellion beobachtet die Welt in Ländern wie Ägypten und Tunesien eine Identitätsfindung. Wie wollen sie sich selbst definieren? Nach welchen Grundsätzen wollen sie sich neue Gesetze geben und alte reformieren? Kaum ein Begriff sorgt dabei für so viel Unruhe wie "Scharia", kein anderer ist so angstbesetzt - und so unklar.

Scharia, arabisch "Weg zur Quelle" oder "zur Wasserstelle", ist im Verständnis des Islam das Gesetz Gottes für die Menschen, das zum Heil führt. "Dieses ,göttliche Gesetz' regelt sowohl die Beziehung des Menschen zu Gott wie auch die Beziehungen der Menschen untereinander", erläutert Dr. Imen Gallala-Arndt vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (MPI) in Hamburg, die sich intensiv mit den Rechtsformen arabischer Länder befasst. Die Scharia ist kein feststehender Gesetzeskodex, sondern ein Verfahren der Rechtsfindung, das auf vier Quellen basiert: auf dem Koran (den Offenbarungen des Propheten Mohammed), der Sunna (glaubwürdigen Überlieferungen seiner Aussagen und Taten), Analogieschlüssen (wie hätte der Koran/der Prophet das Problem gelöst?) und dem Konsens, den islamische Rechtsgelehrte über Jahrhunderte entwickelt haben.

Warum befasste sich der Religionsgründer Mohammed überhaupt mit Rechtsfragen? Anders als Jesus Christus, der deutlich zwischen dem Reich Gottes und dem weltlichen Reich des römischen Kaisers unterschied und sich für diesseitige Gesetze nicht zuständig fühlte, sah sich Mohammed (ca. 570-632) als Gründer eines Gemein-wesens, das er nach Allahs Gesetz für alle, auch Nichtgläubige und Sklaven, harmonisch gestalten wollte. Das war eine bedeutende zivilisatorische Leistung im 7. Jahrhundert, als auf der Arabischen Halbinsel - und im Europa der Merowinger - noch Stammesrecht herrschte. Die Überlieferungen aus Mohammeds Leben zeigen einen auf Ausgleich bedachten Gemeindevorsteher. Nur wenige der 114 Konran-Suren berühren rechtliche Fragen. Dazu gehören die berüchtigten Körperstrafen bei Ehebruch (Auspeitschen) und Diebstahl (Amputation der Hand), aber die Beweislast dafür setzte der Prophet hoch an.

Die Expansion des Islam nach seinem Tod machte es jedoch nötig, aus seinen knappen Leitlinien ein umfassenderes Rechtssystem zu entwickeln. Es wurde wegen der enormen geografischen Ausdehnung des Islam von Nordafrika bis Indien überall zwangsläufig mit örtlichem Gewohnheitsrecht vermischt. Das und die Existenz verschiedener Rechtsschulen zeigten, "dass dieses Recht nicht göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs ist", schreibt der renommierte Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid. Die heutigen Ausformungen der Scharia seien "ein menschliches Produkt". Im 20. Jahrhundert führten die meisten islamischen Länder ein säkulares Recht ein, "nur das Familien- und Erbrecht blieb häufig islamisch geprägt", sagt Imen Gallala-Arndt. Wie in Ägypten.

Nachdem viele liberale und säkulare Oppositionsparteien die ägyptische verfassungsgebende Versammlung verlassen hatten, dominierten dort die islamistischen Parteien: Muslimbrüder und Salafisten. In den Verfassungsentwurf, über den das Volk jetzt abstimmen soll, übernahmen sie Artikel 2 unverändert aus der alten Verfassung von 1971: "Die Religion des Staates ist der Islam und Arabisch die Landessprache. Die Prinzipien der Scharia sind die Hauptquelle der Gesetzgebung." Bisher war es dem Obersten Verfassungsgericht vorbehalten zu deuten, was "Prinzipien der Scharia" dabei heiße, sagt Nora Alim, die Ägypten-Expertin des Hamburger MPI. Die säkularen Verfassungsrichter sahen darin eher zentrale Glaubensgrundsätze.

Jetzt aber wird ein neuer Verfassungszusatz (Artikel 219) deutlicher: "Prinzipien der Scharia" umfassen "allgemeine Belege, Grundregeln, Rechtsprechungsregeln und glaubwürdige Quellen", die im sunnitischen Islam akzeptiert sind. Damit gemeint ist ein Konglomerat von Gelehrtenwerken seit der klassischen Zeit des Islam. Neu ist auch die Bestimmung in Artikel 4: Die Kairoer Al-Azhar-Universität, eine der angesehensten religiösen Autoritäten der islamischen Welt, "ist in Fragen des islamischen Rechts zu konsultieren". Für Nora Alim sind das zwei nicht unwesentliche Änderungen. Sie sind der Versuch, religiöse Institutionen als Berater fest in die Gesetzesfindung einzubinden. Ihr Einfluss soll stärker, der Einfluss des säkularen Verfassungsgerichts gemindert werden.

Möglicherweise wird dann auch das Familienrecht restriktiver. Beispiel Scheidungsrecht: Nach bisherigem Gesetz und dem Koran hat der Mann das unbeschränkte Scheidungsrecht und darf die Frau einfach verstoßen. Die Frau durfte eine Scheidung nur einklagen, wenn sie bestimmte Nachteile oder Schädigungen in der Ehe nachwies (Gewalt, Alter oder Krankheit des Ehemanns, Verweigerung des Unterhalts).

Erst im Jahr 2000 trat eine heftig diskutierte Reform in Kraft: Auch die Frau darf unbegründet die Scheidung verlangen, sofern sie auf alle finanziellen Ansprüche gegen den Mann verzichtet. Bei dieser "khula"-Scheidung ("Freikauf") muss sie die "Brautgabe", die sie bei der Heirat vom Mann erhalten hat, an ihn zurückzahlen. Nach Informationen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte berate das ägyptische Parlament zurzeit, diese Reform wieder abzuschaffen. Ohne die "khula" sei es für die Frau "unmöglich, sich aus einer gescheiterten und gewalttätigen Ehe zu befreien. Ägyptens Scheidungsrate liegt mit 40 Prozent auf deutschem Niveau.

Eher verwirrend ist auch der Umgang mit dem Gleichheitsgrundsatz. In Artikel 10 der alten Verfassung hieß es explizit: "Männer und Frauen sind gleichgestellt", jedoch mit dem Zusatz "soweit es nicht den Prinzipien der Scharia widerspricht". Artikel 11 ergänzte, der Staat sichere den Frauen die "Vereinbarkeit ihrer Familienpflichten mit ihrer Arbeit in der Gesellschaft" zu. Jetzt lautet Artikel 30 des neuen Entwurfs: "Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich in ihren Rechten und Pflichten ohne Diskriminierung". In Artikel 10 ist nur noch vom "Schutz der Mutterschaft", der "weiblichen Alleinverdienerinnen, geschiedenen Frauen und Witwen" die Rede. Eine ausdrückliche Pflicht des Staates zur Förderung und Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft fehlt.

"Der Entwurf schützt auch Kinder und Jugendliche nicht ausreichend. Beispielsweise gibt es kein Verbot der Kinderarbeit", sagt die Hamburger Rechtswissenschaftlerin Nora Alim. "Das wäre eine neue Qualität gegenüber der alten Verfassung gewesen."

Insgesamt halte sie den Verfassungsentwurf "noch nicht für ein Musterstück zur Einführung eines radikalislamischen Staates. Aber er hat die Chance verpasst, die sozialen und freiheitlichen Rechte der Bürger besser zu schützen." Der Islam spiele für die Identität der Ägypter nach wie vor eine sehr starke Rolle. Das heiße aber nicht, dass sie Rechte zugunsten einer restriktiven Scharia wie im Iran aufgeben wollten. "Ich glaube, dass die Muslimbrüder es mit den Ägyptern nicht leicht haben werden."

Auch bei den Nachbarn in Tunesien errang eine islamistische Partei 2011 die Mehrheit in der verfassunggebenden Versammlung. Die Nahda-Partei hält 89 der 217 Sitze, sie muss sich aber mit den Abgeordneten von zahlreichen anderen Parteien einigen.

Zwar sei der Islam auch für die Tunesier identitätsstiftend, aber schon in der alten Verfassung von 1959 fehlte jeder Bezug zur Scharia, sagt Imen Gallala-Arndt. Sogar das Familienrecht war weitgehend säkular: Seit 1956 sind Mann und Frau im Scheidungsrecht gleichgestellt, die Verstoßung wird nicht mehr anerkannt, Polygamie steht unter Strafe. Gallala-Arndt: "Das war eine Revolution, für die der damalige Präsident Bourgiba von vielen Tunesiern und auch anderen arabischen Ländern als Ketzer und Feind des Islam angegriffen worden ist."

Aber als die Linken in Tunesien nach der Revolution 2011 vorschlugen, auf die Festlegung als "islamisches Land" zu verzichten, wurden sie bei den Wahlen abgestraft. Zurzeit diskutiert die verfassunggebende Versammlung heftig über die Prinzipien der Scharia als Gesetzesquelle. Offiziell ließ die Nahda-Partei wissen, sie wolle nicht darauf bestehen. Unter Beschuss geriet Nahda-Chef Ghannouchi jedoch mit der inoffiziellen Äußerung, man müsse nur den Verfassungsartikel 1 ("Die Religion des Staates ist der Islam") weit genug auslegen. Mit dieser Äußerung verursachte er einen Skandal.

"Vielen Tunesiern ist bewusst, dass die islamischen Gesellschaften heute in der Welt nicht viel Einfluss haben", sagt die Juristin Gallala-Arndt. "Sie wünschen sich die 'glorreiche Zeit' des Islam zurück und glauben, man könne das erreichen, wenn man zu den 'Quellen' des frühen Islam zurückkehrt, die vergessen oder verfälscht worden sind. Aber auf gar keinen Fall wollen sie die Errungenschaften der Frauen oder für die Menschenrechte antasten. Das würden auch die meisten Nahda-Wähler nicht wollen." Scharia bleibt ein Reizwort - in Ägypten wie in Tunesien. "Die Länder der Arabellion erleben eine Polarisierung. Sie müssen lernen, Kom-promisse zu finden - auch über die Scharia."