Israels Ministerpräsident verteidigt Beschlüsse zum Bau neuer Siedlungen und erklärt, warum er von Deutschland enttäuscht ist.

Nur eine Glastür trennt noch vom Inneren der Macht. Und doch wähnt man sich nicht im Vorzimmer eines Mannes, der die weltpolitischen Schlagzeilen diktiert. Stünde da nicht ein Sicherheitsbeamter mit hüftseits verdächtig ausgebeultem Jackett, man würde wetten, sich in der Lobby eines lange nicht mehr renovierten Zwei-Sterne-Hotels zu befinden. Niedrige Decken, eine abgewetzte Sofa-Sessel-Kombination. Dann geht sie auf, die Tür, zehn Schritte noch und man ist im Büro von Benjamin Netanjahu. Es ist sein erstes Interview seit Beginn der jüngsten Gaza-Krise, seit der Uno-Abstimmung über Palästina und seit der Verkündung neuer Siedlungsbaupläne.

Hamburger Abendblatt: Herr Premierminister, seitdem wir zuletzt im April für ein Interview zusammen saßen, haben Sie vorzeitige Wahlen angekündigt, es gab einen Mini-Krieg mit den Terroristen in Gaza, und Mahmud Abbas hat für einen palästinensischen Staat einen Beobachterstatus bei der Uno bekommen. Ist der Nahe Osten in eine Phase beschleunigter Veränderungen eingetreten?

Benjamin Netanjahu: Absolut. Der Nahe Osten durchlebt enorme Verwerfungen. Hektische Ereignisse jagen einander. Es gibt große Instabilität wegen der Spannungen innerhalb der arabischen Gesellschaften. Der Kampf zwischen Moderne und Mittelalter ist noch nicht entschieden und das beeinflusst alles, was wir um uns herum erleben. Wir sehen, dass die eine Hälfte der palästinensischen Gesellschaft von radikalen Islamisten übernommen wurde, die vom Iran unterstützt werden. Die andere Hälfte entfernt sich vom Frieden mit unilateralen Resolutionen bei der Uno.

Bevor die Palästinenser zur Uno gingen, hat Israel mit Gegenmaßnahmen gedroht. Nun haben Sie den Bau neuer Siedlungen angekündigt. Wenn das Israels Rückfalloption ist, fällt es schwer zu glauben, dass Sie ein echtes Interesse am Frieden haben.

Netanjahu: Wir haben strategische Interessen, und die werden wir auch angesichts internationalen Drucks beibehalten. Was zukünftige Handlungen anbelangt: Das hängt von den Palästinensern ab. Wenn sie weiter unilateral handeln, dann werden wir entsprechend agieren. Wenn sie zurückhaltender agieren, werden wir ebenso antworten.

Nach der Operation in Gaza schien es so, als hätte Israel, indem es auf eine Bodenoffensive verzichtete, international gepunktet. Nun scheinen Sie diesen Kredit wieder zu verspielen. Franzosen und Briten sollen sogar mit der Abberufung ihrer Botschafter gedroht haben.

Netanjahu: Die Israelis sollten es inzwischen gewohnt sein, von den Europäern nicht fair angehört zu werden, auch wenn wir etwas anderes erwarten. Weil jede objektive Person weiß, das Israel ein belagertes und attackiertes Land ist. Wir sind das einzige Land, dem mit Genozid gedroht wird. Wir haben Gebiete direkt neben unseren Städten aufgegeben. Gebiete, die dann von Verbündeten des Iran übernommen wurden und von denen Tausende Raketen auf unsere Städte abgeschossen werden und von wo offen zu unserer Vernichtung aufgerufen wird. Nun wird von uns verlangt, mehr Gebiete aufzugeben, direkt neben Jerusalem und Tel Aviv, ohne irgendwelche Garantien von der anderen Seite, den jüdischen Staat anzuerkennen, den Konflikt zu beenden, notwendige Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass zum dritten Mal passiert, was im Libanon und Gaza passiert ist, nachdem wir uns von dort zurückgezogen haben. Von all dem steht nichts in der Uno-Resolution. Sie ist komplett einseitig, sie stellt einen groben Verstoß gegen die palästinensische Zusicherung dar, nicht zur Uno zu gehen und die Dinge durch Friedensverhandlungen zu lösen. Aber die Tatsache, dass die Palästinenser ihre Verpflichtungen aus den Osloer Verträgen einfach in Fetzen gerissen haben, wird einfach so abgetan. Und unsere Antwort, die maßvoll ist, wird riesig aufgeblasen. Das ist weder fair noch vernünftig, weil es den Frieden nicht näherbringt. Es entfernt ihn. Das verhärtet die palästinensische Position. Und es sendet die Botschaft aus, dass es keinen Wert hat, Abkommen für den Frieden zu schließen. Denn wenn eine Seite dagegen verstößt, wird sie von niemandem dafür zur Rechenschaft gezogen.

Hat Sie die Reaktion von Frankreich, Großbritannien und Schweden überrascht?

Netanjahu: Ich denke es gibt in manchen Teilen Europas eine Bereitschaft, immer das Schlechteste über Israel anzunehmen. Das ist seit vielen Generationen Teil unserer Geschichte in Europa. Die Leute glauben unfassbare Dinge über die Juden, und manche nun eben über den jüdischen Staat. Was ist denn unser großes Verbrechen? Wir bauen in den Gebieten, die in einem Friedensabkommen bei Israel verbleiben werden. Und es handelt sich nicht um irgendwelches fremdes Land. Das ist das Land, in dem die Juden seit fast 4000 Jahren leben. Wir reden über Vororte, die zum Jerusalemer Stadtgebiet gehören. Hier wird keine Landkarte verändert oder irgendetwas präjudiziert. Es gibt da eine Überempfindlichkeit. Ich habe diese Überempfindlichkeit aber nicht bemerkt, als die Palästinenser gegen die Oslo-Verträge verstoßen haben. Sie haben sich nicht zu Wort gemeldet, als Präsident Abbas seine Solidarität mit den Hamas-Terroristen ausdrückte, die Raketen auf Israel schießen. Ich habe auch nichts gehört, als sie über einen Zusammenschluss von Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde sprachen. Ich halte das für kontraproduktiv. Die einseitige Kritik an Israel vermittelt den Palästinensern nur, dass sie ungestraft feierliche Gelöbnisse zum Frieden brechen können. Das bringt den Frieden nicht voran. Israel ist bereit, Frieden mit einem Palästinenserstaat zu schließen. Aber die Palästinenser wollen einen Staat ohne Frieden. Viele der europäischen Regierungen, die dafür gestimmt haben, glaubten, damit dem Frieden zu dienen. Tatsächlich schadet es ihm, weil es die Palästinenser lehrt, dass sie internationale Anerkennung und Legitimität erhalten können, ohne die für einen Frieden notwendigen Kompromisse einzugehen.

Ihre Regierung hat auch beschlossen, Steuerüberweisungen an die Palästinenser zurückzuhalten, um ausstehende Stromrechnungen damit zu begleichen.

Netanjahu: Sie schulden uns dieses Geld, und sie haben es nicht bezahlt. Deshalb haben wir das Recht, die Gelder einzubehalten, die sie uns schulden. Andere Regierungen machen so etwas ständig mit ausstehenden Schulden.

Seit Beginn der arabischen Revolten scheint Israel in der Defensive zu sein. War der Gaza-Krieg der Versuch, wieder in die Offensive zu gehen?

Netanjahu: Nein, es war eine Reaktion auf die Tatsache, dass wir alle 14 Tage mit Raketen beschossen wurden. Eine Million unserer Bürger wurden mit Hunderten Raketen beschossen. Kein Land würde das akzeptieren. Wir haben machtvoll geantwortet, aber präzise. Die palästinensischen Terroristen in Gaza zielen auf Zivilisten, während sie sich hinter Zivilisten verstecken, und begehen damit ein doppeltes Kriegsverbrechen. Israel hingegen hat als Reaktion die Raketenoperateure und die Raketen selbst angegriffen, und es ist uns gelungen, das Ende des Raketenbeschusses mit minimalen zivilen Opfern zu erreichen. Sie wollen möglichst viele zivile Opfer, wir möglichst wenige. Der Unterschied in den Methoden beider Seiten reflektiert aber auch einen Unterschied in den Zielen. Wer auf alle Menschenrechte trampelt und bereit ist, Massen von Zivilisten abzuschlachten, der hat auch nichts übrig für die Demokratie oder für den Frieden. Tatsächlich rufen Hamas und andere terroristische Untergruppen zu unserer Zerstörung auf, zu einem Völkermord. Und sie werden offen vom Iran unterstützt, der ebenfalls zum Völkermord aufruft. Wir suchen Frieden und Zusammenleben, und wir tun das mit höchst verantwortungsvollen und legitimen Verteidigungsaktionen. Sie wollen genau das Gegenteil.

Warum würde irgendjemand Ihren Job machen wollen? Er scheint der härteste der Welt zu sein.

Netanjahu: (lacht) Das ist eine gute Frage, die aber offensichtlich nicht von genug Leuten gestellt wird, weil es schon einige gibt, die meinen Job gerne haben möchten. Ich empfinde eine tiefe Mission, das jüdische Volk zu beschützen und den einzigen jüdischen Staat. Wir haben eine furchtbare Geschichte auf dem Boden Europas. Unser Volk wurde ermordet - sechs Millionen Menschen. Aus der Asche des Holocaust schufen wir einen Staat. Dieser Staat wird wieder und wieder angegriffen, von arabischen Staaten und nun von Terroristen, die vom Iran unterstützt werden. Und er wird immer wieder verbal angegriffen, durch Verleumdung. In unserer Geschichte, die europäische eingeschlossen, gab es ein wiederkehrendes Muster. Zuerst wurde das jüdische Volk schlechtgemacht, dann wurde es angegriffen. Und das Schlechtmachen, die Hetze diente dazu, die nachfolgenden Angriffe zu legitimieren. Und in vielerlei Hinsicht ist das auch das, was dem Staat Israel widerfährt. Und die Leute kennen die Fakten nicht. Sie wissen nicht, dass wir von genau jenen Gebieten angegriffen wurden, die wir nun zurückgeben sollen. Sie wissen nicht, dass, nachdem wir Gaza verließen, sofort der Iran dort hineingegangen ist und sie uns mit Raketen beschießen. Können die Leute wirklich ernsthaft von uns verlangen, einfach zu gehen? All diese Gebiete aufzugeben? Das ist Erde, auf der schon Abraham, Issak und Jakob gewandelt sind, wo meine Vorfahren lebten, wo es seit 4000 Jahren Juden gibt. Ich sage nicht, dass es dort nicht auch ein anderes Volk gibt. Das gibt es, und ich will Frieden mit ihm. Und ich bin bereit dafür, dass sie einen eigenen Staat haben. Aber ich will keine Situation erleben, in der wir komplett ausgelöscht werden, wenn sie dort bei den Vororten Tel Avivs einen weiteren vom Iran unterstützten Terrorstaat errichten, der unser Überleben bedroht.

Sie und Ihr Bruder waren in der Armee. Ihr älterer Bruder kam bei einer Kommandoaktion um, Sie wurden verwundet. Macht sie das härter, entschlossener?

Netanjahu: Wenn man einmal in der Schlacht war, dann will man das nicht wiederholen. Ich wurde bei einer Rettungsaktion für ein gekapertes Sabena-Flugzeug verwundet. Es ist keine besonders angenehme Erfahrung, von Gewehrfeuer verletzt zu werden. Und es ist tragisch, einen Bruder zu verlieren so wie ich, oder einen Ehemann, einen Vater oder einen Sohn. Jeder, der mal im Krieg war, tut sein Möglichstes, um einen weiteren Krieg zu verhindern. Das ist etwas, das sehr stark ist, und deshalb denke ich sehr sorgfältig über die Konsequenzen nach, bevor ich über eine Militäraktion entscheide. Das steckt tief in mir drin. Auf der anderen Seite wissen wir, dass wir aufhören werden zu existieren, wenn wir uns nicht verteidigen können. Vor der Schaffung des jüdischen Staates waren wir wehrlos. Man konnte uns herumblasen wie ein Blatt im Wind. Wir wurden verbrannt wie Abfall. Und deshalb wurde der jüdische Staat geschaffen, unter anderem, um den Juden eine Heimstatt zu geben, aber auch, um ihnen die Fähigkeiten zur Selbstverteidigung zu geben. Unsere Feinde wissen, dass sie uns auf dem Schlachtfeld und mit legitimen Kriegsmitteln nicht besiegen können. Deshalb benutzen sie zwei Arten von Waffen gegen uns: die Waffe des Terrors - Raketen auf unsere Städte. Und die Waffe der Lügen. Israel als mächtigen Goliath zu beschreiben, obwohl es tatsächlich ein David ist, der sich so vielen Herausforderungen von allen Seiten gegenübersieht, von Leuten, die es auf unsere Zerstörung abgesehen haben. Wir wollen sie nicht zerstören. Wir wollen die Palästinenser nicht zerstören. Wir wollen in Frieden mit ihnen leben. Wir setzen nicht einmal einen Bruchteil unserer Macht ein, weil wir dem Gebrauch unserer militärischen Macht Grenzen setzen. Wenn man ein Soldat ist, dann kennt man diese Grenzen, so wie ich als ehemaliger Soldat sie kenne. Aber der Unterschied ist: Wir wollen in Frieden mit unseren Nachbarn leben, und sie versuchen uns entweder auszuradieren, indem sie uns frontal angreifen, oder einen Staat zu etablieren, der nicht in Frieden mit uns lebt. Beides ist gleichermaßen unakzeptabel.

Im Gaza-Krieg haben die Bundesregierung und Angela Merkel sich sehr eindeutig hinter Israel gestellt. Viele Israelis erwarteten, dass Deutschland gegen den palästinensischen Uno-Vorstoß stimmen würde. Kommen Sie mit gemischten Gefühlen nach Berlin?

Netanjahu: Zuerst einmal weiß ich die Unterstützung von Kanzlerin Merkel und der Bundesregierung während der Gaza-Operation zu schätzen. Gleichzeitig wäre es unaufrichtig, wenn ich Ihnen nicht sagen würde, dass ich enttäuscht war über das deutsche Stimmverhalten bei den Vereinten Nationen, so wie viele Menschen in Israel. Die Menschen sind der Meinung, dass es ein besonderes Verhältnis gibt zwischen Deutschland und Israel. Ich denke, Kanzlerin Merkel war der Meinung, dass diese Stimme irgendwie den Frieden befördern würde. Tatsächlich ist das Gegenteil passiert: Nach der Uno-Abstimmung macht die Autonomiebehörde unter Präsident Abbas Anstalten, sich mit den Terroristen der Hamas zu vereinigen. Die Resolution hat nicht dazu aufgerufen, den jüdischen Staat anzuerkennen oder den Konflikt mit uns zu beenden oder Sicherheitsgarantien zu haben. Sie hat die Palästinenser ermutigt, ihre Position zu verhärten und nicht in Verhandlungen einzutreten. Also trotz der guten Absichten der deutschen Enthaltung finde ich, dass sie das Gegenteil bewirkt hat. Sie hat den Frieden zurückgeworfen. Deshalb freue ich mich auf die Gelegenheit, mit Kanzlerin Merkel zu diskutieren, wie wir nun vorankommen können.

Ihre Familie ist eine politische Dynastie in Israel. Ihr Großvater, ihr Vater spielten eine wichtige Rolle. Was ist mit Ihren Söhnen? Überlegen sie, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten?

Netanjahu: Kein Vater, niemand in diesem Job würde wollen, dass die eigenen Kinder in die Politik gehen. Es ist nicht besonders angenehm. Natürlich kann man da viele Dinge verwirklichen, aber es ist nicht genau das, was man sich für seine Kinder wünscht.

Sie würden Ihren Kindern also raten, es nicht zu tun?

Netanjahu: Ja, das mache ich ständig. Ich weiß zwar nicht, ob das hilft, aber ich versuche es wenigstens. Kinder und junge Leute, meine beiden Söhne sind 18 und 21 Jahre alt, sind außergewöhnlich gut informiert. Und sie verfolgen das Auf und Ab der Politik, und natürlich meine Rolle darin. Manchmal wünsche ich mir, dass sie davon mal eine Pause nehmen könnten. Wenn ich das schon nicht kann, dann hoffe ich, sie können es.

(Aus dem Englischen von Clemens Wergin)