Mit Brachialgewalt setzt sich Wladimir Putin in den ersten 100 Tagen seiner dritten Amtszeit als russischer Präsident gegen Kritiker durch.

Moskau. Der Glanz der olympischen Medaillen zieht auch Wladimir Putin an. 100 Tage nach seiner Rückkehr in den Kreml ehrte der Präsident gestern die stärksten russischen Athleten der Londoner Spiele. Da zeigte Putin seine charmante Seite - seine Gegner aber haben seit der Amtseinführung am 7. Mai keinen Grund zur Freude. Mit zum Teil drakonisch verschärften Gesetzen hat der frühere Geheimdienstchef zu Beginn seiner dritten Amtszeit eine "politische Gegenreform" eingeleitet, meint der Moskauer Politologe Wladimir Slatinow. Die vorsichtigen liberalen Vorstöße seines Vorgängers und Platzhalter-Präsidenten Dmitri Medwedew sind längst Geschichte.

Zum Jubiläum räumen auch kremlnahe Publizisten ein, dass es keinen "Neustart" oder gar "Putin 2.0" gibt, wie ihn Putins Sprecher Dmitri Peskow noch vor der Wahl am 4. März angekündigt hatte. Stattdessen hätten sich alle Ängste vor einem harten Vorgehen gegen Kremlgegner bewahrheitet, sagt Slatinow. Als Höhepunkt gilt der weltweit beachtete Prozess gegen drei Aktivistinnen der Band Pussy Riot. Ihnen drohen nach einem Punkgebet in einer Moskauer Kirche gegen Putin und Patriarch Kirill mehrere Jahre Haft. Morgen soll das Urteil verkündet werden. Schon ist in Moskau die Rede von einer "heiligen Allianz" zwischen Kreml und Kirche. Die russisch-orthodoxe Kirche und Ex-Geheimdienstchef Putin sehen sich seit Langem Vorwürfen korrupter Machtkungelei ausgesetzt. "Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben", singt Pussy Riot. Die Zeile stammt aus dem Song "Mutter Gottes, vertreibe Putin!", dem wichtigsten Beweismittel in dem international kritisierten Prozess. Es sind bisher vor allem Frauen, die öffentlich vor einer "Verkirchlichung des Lebens" und einem "russisch-orthodoxen Kirchenstaat" warnen.

Die Kirche hat Putin vieles zu verdanken - wie die Rückgabe von Eigentum, das ihr die Kommunisten nach der Oktoberrevolution 1917 entrissen hatten. Auch wegen ihrer Unterdrückung zu Sowjetzeiten wertet die Kirche Kritik oft als neuen Totalangriff auf die Religion. Und auch Putin verdankt einen Teil seiner Macht der Fürsprache der Kirche. Im Pussy-Riot-Prozess kritisierte die Angeklagte Nadeschda Tolokonnikowa, dass Kirill vor der Präsidentenwahl am 4. März mit einem Appell für Putin unzulässig Partei ergriffen habe. Auch deshalb habe Pussy Riot in der Erlöserkathedrale protestiert.

+++ Druck auf Kremlchef Putin wächst wegen Pussy Riot +++

Doch nicht nur das allzu innige Verhältnis von Kirche und Staat beunruhigt viele Russen. Gleich zu Beginn seiner dritten Amtszeit hat Putin auch mehrere Gesetze verschärft: Auf Verstöße bei Demonstrationen stehen deutlich drastischere Geldstrafen - für Privatpersonen sind das bis zu 300.000 Rubel (rund 7500 Euro). Stiftungen und Organisationen, die für politische Arbeit in Russland Geld aus Deutschland und anderen Ländern erhalten, müssen sich als "ausländische Agenten" kennzeichnen. Legen Mitarbeiter die Finanzströme nicht offen, drohen ihnen Geld- oder Haftstrafen. Der Tatbestand der Verleumdung steht wieder im Strafgesetzbuch. Journalisten fürchten nun einen Maulkorb. Behörden können unter Verweis auf den Kinderschutz ohne gerichtliche Entscheidung Internetseiten sperren lassen. Gegner des umstrittenen Gesetzes sehen die Gefahr eines Missbrauchs für politische Zwecke und der Zensur im größten Land der Erde.

Vor allem in den Metropolen Moskau und St. Petersburg herrscht nach Ansicht von Experten eine "Atmosphäre der Konfrontation". Bekannte Putin-Gegner wie der Blogger Alexej Nawalny oder TV-Sternchen Xenia Sobtschak sind fast täglich Schikanen ausgesetzt.

Und Dauerherrscher Putin, seit bald 13 Jahren in führender Position, hält das Tempo hoch. Bereits im September soll die von der Kremlpartei Geeintes Russland dominierte Staatsduma per Gesetz die Daumenschrauben gegen die Opposition weiter anziehen. Der Kurs führt in Richtung eines totalitären Staates: Nach Verleumdung soll auch Beleidigung unter Strafe gestellt werden. Zudem will das Parlament Freiwilligenhilfe stärker reglementieren - aus Angst vor der Selbstorganisation Tausender, wie Experten meinen.

+++ Kommentar: Russland dreht sich im Kreis +++

Mit seinem harten Kurs stößt Putin in weiten Teilen des Landes auf Zustimmung. So begrüßt einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada zufolge mehr als die Hälfte der Russen die von Bürgerrechtlern massiv kritisierten neuen Gesetze und unterstützt sogar ein noch schärferes Vorgehen gegen jeden Anschein von Opposition. Der Publizist Leonid Radsichowski zum Beispiel bezeichnet in der Regierungszeitung "Rossijskaja Gaseta" die Maßnahmen Putins und seiner Getreuen als "vorsichtiges Flicken von Löchern". Tiefgreifende Reformen fordert hingegen nur höchstens jeder Dritte. Im ganzen Land ist Putin nach wie vor der mit Abstand beliebteste Politiker. "Das Wichtigste ist, dass Putin Präsident ist und nicht irgendein Hanswurst", schreibt der Schriftsteller Viktor Toporow in der kremlnahen Zeitung "Iswestija". Die beißende Kritik trifft vor allem den einstigen Kremlchef Medwedew, der kaum noch Beachtung findet.

Putins Selbstvertrauen ist groß. So kann er etwa auf den weiter hohen Ölpreis und die guten Wirtschaftsdaten verweisen, die Russland die internationale Finanzkrise deutlich weniger spüren lassen als etwa die Europäische Union. Als Chef eines nach außen starken Staates lässt Putin auch Kritik aus ebendieser EU an seiner starren Haltung im immer dramatischer werdenden Syrien-Konflikt abperlen. Und viele Russen, die dem Westen noch immer äußerst kritisch gegenüberstehen, freuen sich, dass ihr Präsident auf internationalem Parkett klare Kante zeigt.

Dennoch wächst in Russland langsam der Widerstand gegen "die da oben". Heftige Preisanstiege etwa bei Lebensmitteln, die vor der Präsidentenwahl nicht durchgesetzt wurden, schlagen erst jetzt richtig durch. Viele Russen, die den Sommer traditionell auf der Datscha verbringen, werden das Loch im Portemonnaie erst im Herbst spüren. Und dann, so hofft die Opposition, werden auch die Massenproteste Zehntausender Unzufriedener wieder aufflammen.