Proteste im Westjordanland, Verhandlungen und Drohungen bei der Uno: Der Palästinenserstaat erhitzt die Gemüter.

Auf dem zentralen Manara-Platz in Ramallah steht ein überdimensionaler Stuhl mit dem Emblem der Vereinten Nationen. Er symbolisiert die Hoffnung der Palästinenser, sie könnten nach 44 Jahren endlich die Besatzung abschütteln und einen eigenen Sitz in der Völkergemeinschaft bekommen. Der 6,5 Meter hohe Riesenstuhl spiegelt aber auch die Höhe der Erwartungen wider, die viele an das umstrittene Uno-Vorhaben ihres Präsidenten Mahmud Abbas knüpfen. Tausende jubelnde Palästinenser feierten in Ramallah ausgelassen die nationale Offensive. Doch das Erwachen in der nahöstlichen Realität könnte sich als unsanft erweisen.

Benjamin Netanjahus Äußerungen vor Abreise nach New York ließen zumindest nur wenig Hoffnung auf einen Durchbruch im Friedensprozess. Der israelische Regierungschef sagte, sein Land müsse angesichts der dramatischen Umwälzungen in der Region im Zuge des „Arabischen Frühlings“ vor allem Vorsicht walten lassen. Er wolle den Vereinten Nationen bei seiner Ansprache am Freitag „seine Wahrheit“ erklären: Israel kämpfe weiterhin um seine Existenz und müsse deshalb „auf seinen Rechten und Bedürfnissen beharren“.

Netanjahus Kritiker werfen ihm vor, er reagiere auf die tief greifenden Veränderungen in Nahost nur mit einer sturen Bunkermentalität und bringe Israel damit an den Rand des Abgrunds. Die jüngsten Konflikte mit der Türkei und Ägypten haben Israel in eine gefährliche Isolation befördert, aus der sich der jüdische Staat wohl nur mit einer Wiederbelebung des Friedensprozesses retten könnte. Doch innenpolitisch hat Netanjahu nur wenig Spielraum. Ein Kommentator der Zeitung „Haaretz“ schrieb am Mittwoch: „Netanjahus Augen sind auf die einzige politische Basis gerichtet, die er hat – die Rechte. Für ihn ist es zu spät, um Teams zu wechseln.“

Bei seinem Auftritt vor den Vereinten Nationen muss Netanjahu daher vorsichtig zwischen Skylla und Charybdis lavieren, den sagenhaften Ungeheuern der Antike: Kann er die Weltöffentlichkeit nicht von Israels Friedenswillen überzeugen, droht sein Land noch weiter in die Isolation abzugleiten. Kommt er den Palästinensern jedoch zu weit entgehen, verprellt er seine rechtsorientieren Koalitionspartner.

Und der Druck von Rechts ist gewaltig: Die graue Eminenz in der Regierung, Außenminister Avigdor Lieberman von der ultra-nationalen Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel), dementierte zwar Zeitungsberichte, er habe Netanjahu mit Koalitionsbruch gedroht, falls dieser die Palästinenser nicht für ihren Uno-Vorstoß „bestrafen“ sollte. Aber sein Stellvertreter Danny Ajalon forderte im israelischen Rundfunk eine Reihe möglicher Strafmaßnahmen, sollte Abbas den Antrag auf Vollmitgliedschaft einreichen.

„In dem Moment, in dem die Palästinenser sich an die Vereinten Nationen wenden, sind die Friedensverträge aufgekündigt“, sagte Ajalon. Man erwäge auch die Annexion der großen Siedlungsblöcke im Westjordanland sowie die Einbehaltung von monatlich umgerechnet 100 Millionen Euro aus Steuern und Zöllen, die den Palästinensern zustehen.

Israels Sicherheitskräfte befürchten allerdings, ihre palästinensischen Kollegen im Westjordanland könnten ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen, sollten sie keine Gehälter mehr bekommen. Dies wäre besonders prekär, weil Israel sich darauf einstellt, dass friedliche Demonstrationen im Westjordanland in Gewalt ausarten könnten.

Bewegung ist nicht in Sicht: Wie ein Mantra wiederholen Abbas und Netanjahu, sie wollten neue Verhandlungen – bislang blieben dies jedoch nur Lippenbekenntnisse. Ein Kommentator der israelischen Zeitung „Jediot Achronot“ fasste die „Tragödie“ in Nahost so zusammen: Sowohl Netanjahu als auch Abbas wollten Frieden. „Sie wollen es wirklich. Aber sie wollen nicht den Preis dafür zahlen.“ Und kein noch so gewiefter Vermittler könne die große Kluft zwischen den Positionen beider Seiten überwinden. „Daher strebt Netanjahu nach Verhandlungen anstelle eines Abkommens und Abbas nach internationaler Anerkennung anstelle von Verhandlungen.“

Bis zum kommenden Dienstag werden im Uno-Gebäude am East River in New York Staats- und Regierungschefs, Minister und Diplomaten aus 200 Staaten und Regionen sprechen. Erstmals in der Geschichte der Vereinten Nationen wird eine Frau die Generaldebatte eröffnen. Die brasilianische Staatschefin Dilma Rousseff steht oben auf der Rednerliste, da Brasilien nach einer alten, ungeschriebenen Tradition schon seit Gründung der Vereinten Nationen dieses Privileg hält.

Nach Roussef spricht US-Präsident Barack Obama. Es wird erwartet, dass er sich zur Demokratisierung in einigen arabischen Staaten und zu einer möglichen Ausrufung eines palästinensischen Staates äußern wird. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hatte zu Wochenbeginn angekündigt, am Freitag die Uno-Vollmitgliedschaft zu beantragen. Vor allem die USA sind dagegen, solange es keine Friedenslösung mit Israel gibt. Abbas wird am Freitag sprechen. Durch einen Zufall des Protokolls, das die Reihenfolge der 200 Redner regelt, wird nur etwa eine Stunde nach ihm Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ans Pult treten. (dpa/abendblatt.de)