Noch ist Muammar al-Gaddafi nicht gefasst. Doch den Palastkomplex des Diktators haben die Rebellen größtenteils erobert, und in Tripolis herrscht Volksfest-Stimmung

Berlin/Tripolis. In Libyen verschwimmen Licht und Dunkelheit. Die Menschen sprechen von nichts anderem als der Zukunft, dem neuen Libyen von morgen. Sie sind außer sich vor Erwartung und zugleich ängstlich. Sie können nicht glauben, dass Gaddafi wirklich besiegt ist, solange sie immer wieder seine Botschaften im Radio hören. Wenn er immer noch vom Sieg spricht, dann muss er noch irgendeine Waffe in der Hinterhand haben, eine schreckliche Rache.

In dieser Anspannung begehen die Menschen den islamischen Fastenmonat Ramadan. Sie nehmen nichts zu sich den ganzen Tag über, in einer Hitze von 30 bis 40 Grad, am Abend, etwa um 19 Uhr, brechen sie das Fasten. Dann feiern sie mit all dem Essen, das sie haben können, bis 5 Uhr oder 6 Uhr morgens. Auch Tag und Nacht verschwimmen. Viele schlafen bis in den Nachmittag, nur die Kämpfer nicht. Sie sind noch übernächtigter als alle anderen, und sie sind vollgepumpt mit Adrenalin und Euphorie. Sie jubeln, wenn man auf der Wüstenstraße nach Tripolis an den unzähligen Kontrollpunkten vorbeifährt. An einer Stelle haben sie noch am frühen Morgen ein Schaf geschlachtet und grillen es jetzt über dem offenen Feuer. Doch der Krieg kommt näher, je dichter man der Hauptstadt kommt.

Am Straßenrand liegen zerstörte Fahrzeuge, die Vororte zeigen Spuren der Kämpfe. An einem Haus sind Sandsäcke zu einem Wall gegen Gewehrkugeln aufgeschichtet, doch das Gebäude liegt fast vollständig in Trümmern. An einer Tankstelle kommt es zum Gedränge. Der Treibstoff wird nur in kleinen Rationen abgegeben, bewaffnete Rebellen regeln die Verteilung.

Über der Innenstadt von Tripolis liegt schwarzer Rauch. Die Geschäfte der Millionenmetropole sind geschlossen. In der Ferne sind unaufhörlich Schüsse zu hören, gedämpfte Detonationen. Auf den Straßen sind kaum Passanten zu sehen, nur die Posten der Rebellen, die jede Straßenecke sichern. Die Angst vor Plünderern ist groß. An der Strandpromenade liegt Müll am Straßenrand, wie überall in der Stadt, lange Halden von Plastiksäcken, die offenbar schon seit vielen Tagen hier abgeladen werden. Dahinter sitzen Menschen unter den Sonnenschirmen, einer badet sogar, während auf der Uferstraße Reihen von Pick-up-Wagen mit Maschinengewehren auf der Ladefläche vorbeirollen.

Aber wenn man ihnen folgt und den Grünen Platz erreicht, jenen zentralen Treffpunkt der Stadt direkt gegenüber dem Hafen, dann steht man plötzlich mitten in dem Fest, das die Befreiung Libyens feiert: Das lange Rechteck ist voller fröhlicher Menschen, sie schwenken Fahnen und tanzen, Rebellen fahren auf Pick-ups und Lastwagen immer rund um den Platz, und aus aufmontierten Lautsprechern dröhnen revolutionäre Lieder. Im Basar der benachbarten Altstadt sind ein paar Geschäfte geöffnet, dort können Familien für die Ramadan-Suppe einkaufen, die sie zum Fastenbrechen auftischen wollen.

Auch Frauen und Kinder sieht man auf dem Grünen Platz, ein Familienvater hat eine Staude Bananen gekauft und reicht sie einem Kämpfer auf die Ladefläche. Die Rebellen schießen übermütig in die Luft, mit allem, was schießen kann, von der Handfeuerwaffe bis zur Maschinenpistole. Manche der Stücke sind nagelneu, sie tragen noch das Etikett mit dem Strichcode. Allesamt Fabrikate der Firma Beretta aus der oberitalienischen Provinz Brescia. Die haben sie in Gaddafis Palast Bab-al-Asisija erbeutet, frohlocken die Rebellen. Da liege das Zeug haufenweise rum, noch in Originalverpackung.

Der Palast, das ist jener gewaltige Komplex inmitten der Stadt - halb Kaserne, halb Freilichtmuseum -, von dem aus einst ganz Libyen regiert wurde. Am Dienstagabend hatte es noch geheißen, der Palast sei erobert. Der Triumph der Rebellen war so groß, dass die Frage nach dem Verbleib des Diktators Gaddafi und seiner Söhne fast zur Nebensache wurde. Doch die Aufständischen hatten sich zu früh gefreut. Um acht Uhr morgens wurden sie plötzlich wieder angegriffen, aus dem Innern des Komplexes heraus. Etwa 30 bis 50 regierungstreue Kämpfer haben sich dort verschanzt, zwischen den verwinkelten Gebäuden und massiven Schutzmauern, die das Gelände in mehreren Ringen aufteilen. Von dort sind sie nur schwer zu vertreiben. Der Kampf um die Festung beginnt erneut. Die Führung der Rebellen bringt nach eigenen Angaben noch einmal 3000 Kämpfer aus Misrata nach Tripolis.

Am Mittag ist der Palastkomplex ein bizarrer, tödlicher Ameisenhaufen. In einem unaufhörlichen Hin-und-her-Laufen Bewaffnete zwischen den zertrümmerten Eisenportalen hindurch auf das Gelände, hinter die erste Schutzmauer, hinter die zweite, dann hinter die dritte Schutzmauer, die in Tarnfarben gestrichen ist. Von dort ist das heftigste Feuer zu hören. Die Verteidiger schießen mit 14,5-Millimeter-Fliegerabwehrkanonen und Mörsern, berichtet ein Offizier der Rebellen. Sie setzen Mörser ein, die sie mit Cluster-Munition laden - Projektilen, die beim Aufprall eine Wolke weiterer Kleinbomben freisetzen. Niemand weiß, wie viele Rebellen im Kampf mit dieser Gegenwehr sterben, in einem Areal, das über Jahrzehnte nur für diesen Zweck ausgerichtet wurde: einen Gewaltherrscher gegen sein Volk zu verteidigen.

Aber die Stimmung der Kämpfer ist nicht bitter oder ernst. Es herrscht fast so etwas wie Volksfest-Stimmung, ein fröhliches Kommen und Gehen, niemand wird abgehalten, sich dem Kampfplatz zu nähern, jeder kann mitmachen. Wie es scheint, werden nicht einmal wirklich Befehle gegeben. Am Nachmittag setzen sich nur noch ein paar Männer am Rande der großen Wiese zur Wehr, auf der Gaddafi einst Feste veranstaltete. Die Rebellen haben Raketenbatterien herbeigeschafft. Um 15.30 Uhr etwa gibt es noch einen gewaltigen Schlag, dann ist Ruhe. Sie sind tot, heißt es. Jetzt ist es aus.

Am Abend wird nur noch in zwei Vierteln der Hauptstadt gekämpft. In einem davon liegt das Hotel Rixos, in dem das Regime während der vergangenen Kriegsmonate Journalisten untergebracht hatte. Sie durften das Gebäude nicht mehr verlassen, berichteten die Reporter von CNN und BBC. Auch in anderen Orten des Landes gibt es noch kleinere Kämpfe. Nach eigenen Angaben beherrschen die Rebellen 95 Prozent des Landes. Nur von Gaddafi fehlt noch immer jede Spur. Der Nationale Übergangsrat hat ein Kopfgeld von 1,7 Millionen US-Dollar auf ihn ausgesetzt. Zuerst erklärte man noch, man wolle ihn lebend, damit ihm der Prozess gemacht werden könne. Jetzt heißt es: tot oder lebendig. Am Abend werden die Journalisten aus dem Rixos befreit. Die Dämmerung bricht herein, und bald wird Tripolis wieder feiern.