Bundestagspräsident erwartet von einem außereuropäischen Kirchenoberhaupt mehr Reformanstöße und schnellere Veränderungen

Hamburg. Die katholische Kirche in Deutschland leidet unter einer Bedrohung, die an den Niedergang der FDP erinnert. Die gefährlichsten Angriffe kommen nicht von außen. Vielmehr ist sie von einer Auflösung und Absetzbewegung aus den eigenen Reihen befallen. Zwei Entwicklungen markieren dies: Rekordzahlen beim Kirchenaustritt und ein eklatanter Priestermangel, der dazu führt, dass immer mehr Gemeinden in eine Zukunft ohne Pfarrer steuern.

Zwar wird inzwischen auch von den Würdenträgern an der Spitze, den Bischöfen, die dramatische Lage nicht mehr schöngeredet. Aber die Antworten auf die drängende Frage, wie die Amtskirche reagieren soll, um etwa die verbleibenden Gemeinden lebensfähig zu halten, gehen weit auseinander. Reformbewegungen wie "Wir sind Kirche" sehen als wichtigste Ursache der auch nach dem Papstbesuch in Deutschland nicht gestoppten Austrittswelle mit über 181 000 vor einem Jahr in den massiven Zusammenlegungen und Schließungen von Gemeinden. Auch die Missbrauchswelle gilt als ein Grund. Mit dem Rekordwert 2010 haben erstmals mehr Katholiken als Protestanten (145 000) ihre Kirche verlassen.

Wie ist der Trend zu stoppen? Bundestagspräsident Norbert Lammert, Katholik und Autor einer Neuübersetzung des Vaterunsers, hofft nicht "auf einen Befreiungsschlag, schon gar nicht unter diesem Papst", wie er vor etwa 100 jugendlichen Zuhörern in der Katholischen Hochschulgemeinde Hamburg am Dienstagabend bekannte. Seine Meinung "als protestantisch veranlagter Katholik" formuliert er so: "Ich glaube, dass es eine ernsthafte Chance auf Veränderung in der katholischen Kirche erst unter einem ersten nicht europäischen Papst geben wird."

Der könne im Unterschied zu allen Vorgängern aus Europa nicht behaupten, er kenne die Verhältnisse auf diesem Kontinent besser als die Bischöfe vor Ort. Ein Papst aus Afrika oder Südamerika werde "heilfroh sein", wenn die Bischöfe "ihre Aufgaben endlich anpacken". Kirchenkenner halten es nur für eine Frage der Zeit, wann ein Papst aus Afrika oder Südamerika in Rom gewählt wird. Die katholische Kirche auf beiden Kontinenten wächst und gewinnt dadurch an Einfluss. Unter einem solchen Papst werde es "objektiv günstigere Bedingungen für eine Beschleunigung des notwendigen Veränderungsprozesses in Europa geben, die wir heute mehr oder weniger hilflos diskutieren", meint Lammert. Als Bundestagspräsident hatte er Papst Benedikt XVI. im vergangenen September als Ehrengast und Redner im Bundestag mit der Anrede "Heiliger Vater" begrüßt.

Vor allem engagierte Laien in der Kirche dringen auf mehr Mitsprache und Beteiligung von Nicht-Priestern und Frauen in kirchlichen Leitungspositionen. Auf diesem Gebiet sei bereits "mehr möglich als unterstellt wird", meint Hamburgs Weihbischof Hans-Jochen Jaschke. Doch den deutschen Bischöfen fehle es an Selbstbewusstsein, entgegnet Lammert, sie nutzten ihre Spielräume nicht. Die Bischöfe könnten nicht einfach den Zölibat auflösen, kontert Bischof Jaschke. Es gehe um die gemeinsame Suche nach dem richtigen Weg "in diesen komplizierten Zeiten", er wolle aber "keinen Generalstabsplan, auch nicht aus Rom", sondern bevorzuge individuelle Lösungen und keine Maximalforderungen wie die Priesterweihe für Frauen. Sinnvoller sei es, mit einem Diakonat für Frauen zu beginnen. Die Diakon-Weihe ist die erste Stufe des Weihesakraments vor der Priester- und der Bischofsweihe, auch Verheiratete werden zum Diakon geweiht. Lammert verweist auf eine Erfahrung, die "ich in einem langjährigen politischen Leben gewonnen habe" und die er in der Kirche ebenfalls beobachte: "Veränderungen, auch solche, von deren Notwendigkeit man selbst längst überzeugt ist, finden regelmäßig langsamer und später statt als erforderlich." Gerade unter den Bischöfen gebe es viele Bremser mit der Einstellung: "Das soll mein Nachfolger machen."

Umso wichtiger sei es, dass sich Laien oder auch Weihbischöfe regelmäßig kritisch äußerten. Werden sich 2017, im Jubiläumsjahr "500 Jahre Reformation", die beiden christlichen Kirchen annähern? Lammert ist skeptisch: "Wie wir auf dieses Jubiläum zusteuern, macht mich zunehmend nervös."