Da die Unruhen anhalten, bittet Kirgisien um russische Unterstützung. Die Regierung erlaubte per Dekret den “Einsatz tödlicher Waffen“.

Bischkek/Moskau. Kirgistan ruft um Hilfe. Zwei Monate nach der Machtübernahme ist die neue Regierung durch blutige Unruhen so unter Druck geraten, dass sie Russland um Beistand bitten musste. Doch der Kreml zögert.

Angesichts eskalierender Gewaltexzesse im Süden von Kirgistan hat die Führung der zentralasiatischen Republik die Teilmobilmachung der Streitkräfte verfügt. Zudem unterzeichnete Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa ein Dekret zur Verhängung des Kriegsrechts in der Stadt Osch, dem Zentrum der Unruhen. Es ermächtigt Soldaten und Polizisten, ohne Vorwarnung zu schießen. In einer am Samstagabend in Bischkek veröffentlichten Erklärung hieß es, der „Einsatz tödlicher Waffen“ sei erlaubt, um Angriffe auf Polizei und Armee zu erwidern, die Regierung, Zivilisten und Privateigentum zu schützen.

Die Maßnahmen gegen „kriminelle Elemente“ seien nötig, um die Verfassungsordnung aufrechtzuerhalten, sagte Otunbajewa nach Angaben der Agentur Akipress am Samstag in der Hauptstadt Bischkek. Seit Tagen liefern sich in der Ex-Sowjetrepublik vor allem Kirgisen und Angehörige der usbekischen Minderheit Straßenschlachten. Dabei gab es nach Regierungsangaben mehr als 75 Tote und rund 1000 Verletzte.

Zuvor war Otunbajewa mit einem Appell an Russland um militärische Hilfe gescheitert. Beistand aus Moskau sei nötig, um die Lage im Süden unter Kontrolle zu bringen, hatte sie einen Brief an Kremlchef Dmitri Medwedew begründet. Russland reagierte mit großer Zurückhaltung. „Es ist ein innerer Konflikt, und bis jetzt sieht Moskau die Bedingungen für eine aktive Teilnahme nicht erfüllt“, sagte Medwedews Sprecherin Natalia Timakowa. Das russische Staatsoberhaupt schaltete sich jedoch mit Telefondiplomatie ein.

Im Süden von Kirgistan galt die Lage als extrem instabil. In Osch und Umgebung seien Artilleriefeuer und Salven aus automatischen Waffen zu hören, viele Gebäude und Autos stünden in Flammen, meldete Akipress. „Es herrscht Anarchie“, sagte ein Arzt. In Krankenhäusern mangele es akut an Verbandsmaterial und Blutkonserven. Die Gasversorgung von Osch sei abgestellt, um Explosionen zu verhindern. Plünderer seien am Werk. Mindestens ein Wohnbezirk sei ausgebrannt.

Die deutsche Zentralasien-Expertin Andrea Berg sprach von einer „humanitären Katastrophe“ großen Ausmaßes. „Es ist eine furchtbare Situation. Der Himmel war heute Morgen schwarz. Vom Himmel regnete es Asche“, sagte die Beobachterin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Berg hält sich in der 50 0000-Einwohner-Stadt Osch auf. Die Interimsregierung ordnete am Samstag auch für die Stadt Dschalal-Abad und Bezirke in der Umgebung den Ausnahmezustand an. Rund 5000 Flüchtlinge seien unterwegs ins benachbarte Usbekistan, hieß es.

Russland leiste keine militärische, aber humanitäre Hilfe, sagte Timakowa. Ein Transportflugzeug vom Typ Iljuschin Il-76 bringe Verbandsmaterial, Medikamente und Lebensmittel nach Kirgistan und nehme auf dem Rückweg Schwerverletzte mit. Russland hat in der nordkirgisischen Stadt Kant hunderte Fallschirmjäger stationiert.

Otunbajewa machte für die Exzesse Anhänger des vor zwei Monaten gestürzten Präsidenten Kurmanbek Bakijew verantwortlich, der in Weißrussland im Exil lebt. Diese wollten „mit aller Macht“ die für den 27. Juni geplante Volksabstimmung über eine neue Verfassung zum Scheitern bringen. Das Referendum soll helfen, demokratische Strukturen aufzubauen. Der Süden gilt als Hochburg des Bakijew-Clans.

Die usbekische Minderheit sprach von rund 520 Toten bei jüngsten Unruhen. Dafür gab es aber keine Bestätigung. In einer Volkszählung in Kirgistan hatten sich etwa 15 Prozent der Bevölkerung zu einer usbekischen Herkunft bekannt. Usbekistan sei „tief besorgt“ über die Unruhen im Nachbarland, teilte das Außenministerium in Taschkent mit. Angesichts der Gewalt entsendet die Europäische Union Experten in das Gebiet. Ziel sei, den Bedarf an humanitärer Hilfe zu klären, hieß es.