Brüssel. Die Stimmung in der europäischen Hauptstadt Brüssel vibriert wie seit Jahren nicht mehr. Dabei geht es nur um zwei einfache Frage: Wer leitet künftig als EU-Präsident die Treffen der Regierungschefs? Und wer wird neuer EU-Außenminister?

Vor Jahren hatte die EU die beiden neuen Top-Jobs beschlossen. Es war die Zeit des Aufbruchs, es herrschte Euphorie in Europa, die Dinge sollten besser werden. Jetzt, nach Ratifizierung des neuen Reformvertrags, ist es so weit. Es gibt viele in Brüssel und in den Hauptstädten, die fürchten, Macht und Einfluss zu verlieren. Das wollen sie aber nicht. Sie wollen einen Präsidenten, der schwach ist, und einen Außenminister, der sich von den Korsettstangen des Brüsseler Apparates zuschnüren lässt. Hinzu kommt, dass der Proporz stimmen muss: Christdemokraten und Sozialisten, die beiden stärksten Parteien in Europa, müssen bedient werden, es muss ein Gleichgewicht geben zwischen Ost und West, Gründer- und Beitrittsstaaten, kleinen und großen Ländern.

In der Nacht zum Freitag soll die Entscheidung über die beiden Top-Jobs fallen, es ist High Noon in Brüssel. Pausenlos hatte der amtierende EU-Vorsitzende, Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt, in den vergangenen Tagen mit seinen Kollegen telefoniert. Ohne Erfolg. Die deutsche Kanzlerin ist seit Tagen erbost über Reinfeldt. Sie fordert mehr Entschlossenheit, der Zauderer aus dem Norden ist ihr zu langsam. Angela Merkel will die Dinge jetzt selbst in die Hand nehmen. Sie hat gestern viel telefoniert: Mit Frankreichs Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, Großbritanniens Premierminister Gordon Brown und dem Fraktionschef der Sozialisten im EU-Parlament, Martin Schulz. Die vier sind zusammen mit Österreichs sozialdemokratischem Bundeskanzler Werner Faymann die Königsmacher. Es wäre ein harmonisches Quintett, wenn der Störenfried Brown nicht wäre. Schulz und Faymann wollen für die Sozialisten den ehemaligen italienischen Außenminister Massimo D'Alema als Außenminister. Merkel und Sarkozy wiederum möchten den konservativen belgischen Ministerpräsidenten Herman van Rompuy, der in seiner Freizeit gerne 17-silbige Kurzgedichte (Haiku) über die Natur schreibt und niemanden stören würde, als EU-Präsidenten durchsetzen. Brown macht nicht mit. Er will seinen Vorgänger, den Sozialdemokraten Tony Blair, als Ratspräsidenten durchpauken. Damit verletzt er Absprachen zwischen den Parteien. Eigentlich soll der neue Ratspräsident ein Konservativer und der Außenminister, im EU-Jargon Hoher Beauftragter genannt, ein Sozialdemokrat sein.

Aber Blair würde nicht nur den selbst verordneten Proporz durcheinanderbringen. Er würde auch die Regierungschefs ärgern. Europas Kurfürsten mögen keine Leuchttürme wie Blair, der einen eigenen Kopf und Charisma hat. Sie wollen schwache Kandidaten wie van Rompuy, Hollands Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende - der jedoch den Ruf eines calvinistischen Sturkopfes hat und Probleme machen könnte - oder den estischen No-Name Toomas Ilves.

Die Königsmacher sind zerstritten. Die Lücke für neue Kandidaten ist offen: Vaira Vike-Freiberga, Paavo Lipponen, Giuliano Amato, Miguel Angel Moratinos, Carl Bildt. Keiner von ihnen hat eine Chance. Aber es kann auch alles ganz anders kommen. Eine alte Brüsseler Regel sagt: Wer zu früh genannt wird, ist verbrannt. Aus dem Zweikampf zwischen Balkenende und van Rompuy könnte Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker als Kompromiss-Kandidat profitieren. Die Kanzlerin wird heute Nacht in Raum 20.4 sitzen und sagen, was sie immer sagt: "Wir haben eine gute Lösung gefunden - für Deutschland und Europa."