“Autonomie“ in der Volksrepublik China oder volle Unabhängigkeit? Viele Exil-Tibeter befürchten eine Spaltung - und dass sich ihr geistiges Oberhaupt (73) bald zurückzieht.

Hamburg. Am 29. Oktober, einen Tag vor dem letzten Dialog zwischen China und Vertretern des Dalai Lama, gab die britische Regierung eine alte Position auf. Seit einem Abkommen von 1913 hatte Großbritannien den Chinesen zwar "Oberhoheit" über Tibet zugestanden, aber keine volle Souveränität. Diese Position sei heute "ein Anachronismus", sagte Außenminister David Miliband nun. "Wie alle EU-Mitgliedsländer und die USA erachten wir Tibet als Teil der Volksrepublik China."

Peking reagierte triumphierend, die tibetische Exilregierung "tief enttäuscht".

Der Vorgang erscheint nebensächlich, aber er hat etwas Symbolisches. Die große, weltweite Sympathiewelle nach den blutig niedergeschlagenen Unruhen im März in Lhasa ist verebbt. Für die Lage der Tibeter wurde keinerlei Fortschritt erreicht. China hat den Dialog mit dem Dalai Lama brüsk für gescheitert erklärt. Die Mitteilung aus London wirkt auf viele Tibeter jetzt wie die Kapitulation eines letzten Freundes.

Die große Sonderkonferenz der Exil-Tibeter, die seit Montag im indischen Dharamsala tagt, trägt deshalb ein Gewicht wie Blei. Sie muss eine Neuorientierung finden: Wie soll man einen Dialog ohne Dialogpartner fortsetzen? Ist es sinnvoll, weiterhin eine "Autonomie" Tibets unter dem Dach der Volksrepublik China zu fordern? Oder will die Mehrheit eine ferne, aber volle Unabhängigkeit? Viele fürchten, dass sich die Exil-Gemeinde an diesen Fragen spaltet. Und im Hintergrund steht die bange Frage: Welches Vakuum entsteht, wenn sich der Dalai Lama zurückzieht?

Der Dalai Lama selbst hat seine Funktion immer moderner definiert als seine Anhänger. Das Land, dessen weltliche Herrschaft er 1950 mit 15 Jahren antrat, war "ein ziemlich finsterer Feudalstaat unter der Herrschaft der Lama-Priester und einiger Feudalherren mit einer in extremer Armut lebenden Bevölkerung", sagt der Asien-Kenner Peter Scholl-Latour. Aber im eigenen Land kam der junge Dalai Lama als Reformer nicht zum Zuge. Diese Tragödie überschattet sein Leben.

Er hat Tibet die erste demokratische Verfassung nach westlichem Vorbild beschert - aber erst im Exil und gegen langjährigen Widerstand seiner Anhänger, die eine Gewaltenteilung nicht für nötig erachteten. "In anderen Ländern verlangt das Volk die Demokratie, in unserem Fall musste sie dem Volk von oben auferlegt werden", räumt der exiltibetische Premierminister Samdhong Rinpoche ein.

50 Exil-Jahre lang hat der Dalai Lama versucht, es vielen Seiten recht zu machen. Den Tibetern soll er als tief verehrter Gottkönig Halt geben - in der Welt soll er sich als aufgeklärter Repräsentant bewegen. Überdies ist der westliche Blick auf Tibet bis heute großenteils romantisch verklärt. In der eigenen Geschichte hat der Westen ethnische Gruppen und ihre Kultur mit großer Selbstverständlichkeit verdrängt oder modernisiert - aber das unterentwickelte, "idyllische", naturgläubige Tibet soll wie ein Fossil konserviert bleiben.

China ist von solchen Illusionen weit entfernt. Es hat mit einem gigantischen Kraftakt - dem Bau der Lhasa-Bahn - entschlossen die Erschließung Tibets begonnen. Für Tibet ist die Eisenbahn heute das Einfallstor für Modernisierung, Industrialisierung und Überfremdung geworden. Die KP-Führung dagegen rechnet bis zum Jahr 2020 in ganz China mit einer Umsiedlung von insgesamt 300 Millionen Menschen, das sind etwa so viele wie die Einwohnerzahl der USA. Die Probleme von rund 6 Millionen Tibetern fallen für Peking da nicht ins Gewicht.

China hat deutlich gemacht, dass es mit dem Dalai Lama keine Versöhnung will. Wollen die Tibeter selbst eine Versöhnung mit China? Kurz vor der Sonderkonferenz ließ das tibetische Exilparlament nach eigenen Angaben 17 000 Tibeter in Tibet befragen (wie, wurde nicht erläutert). Mehr als 5000 von ihnen hätten für eine "komplette Unabhängigkeit" votiert; fast 3000 seien für den bisherigen "Mittleren Weg", also eine Autonomie Tibets mit eigener demokratischer Regierung unter der Souveränität der VR China. 8000 wollten dem Weg folgen, den der Dalai Lama vorschlagen werde.

In Beiträgen auf der Internetseite der Exilregierung deutet sich jedoch an, dass die Vertreter der vollen Unabhängigkeit an Einfluss gewinnen, auch im Parlament. "Echte Autonomie" als demokratische Insel könne es"in einem leninistischen Polizeistaat" wie China nicht geben, schreiben Konferenzteilnehmer.

Der Dalai Lama will an der Versammlung nur beobachtend teilnehmen, "um niemanden zu beeinflussen". Vieles deutet darauf hin, dass sich der 73-Jährige von seinen weltlichen Aufgaben bald zurückziehen wird. Seine Gesundheit hat sich in den vergangenen Monaten verschlechtert, sein Terminplan wurde zusammengestrichen.

Er sei darauf vorbereitet, dass sein bisheriger "Mittlerer Weg" vielleicht keine Zukunft mehr unter seinen Anhängern finden werde, erklärte er. "Es liegt nun am tibetischen Volk, über die Zukunft Tibets zu entscheiden, und nicht an mir als Person."

Es klingt resigniert.