Pham Thanh Cong war damals elf. Die Körper der Toten schützten ihn vor den Kugeln der Amerikaner. In den Ort, der zum Synonym für Kriegsverbrechen wurde, ist inzwischen das Leben zurückgekehrt.

My Lai. Nationalstraße eins. Vormittags auf dem Weg nach My Lai. Verkehrsgewühl wie anderswo. In dem kleinen südvietnamesischen Dorf wurden am 16. März 1968 504 Menschen von US-Soldaten ermordet. In My Lai will ich Pham Thanh Cong treffen, einen der wenigen Geretteten. Auf der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung Vietnams drängeln sich Mopeds und Lkw. Es ist schwül, die Luftfeuchtigkeit unerträglich. Schulkinder sind auf ihren Fahrrädern unterwegs. Die meisten in adretten Uniformen. Die leuchtend roten Pioniertücher um die Hälse geschlungen. Manche tragen Baseballmützen.

My Lai gehört zur Gemeinde Song My, rund 540 km nordöstlich von Saigon. Die letzten 13 Kilometer geht es vorbei an Lehmhütten im Schatten mächtiger Bambuswedel. Mit Kokospalmen und Wasserbüffeln und immer wieder grün schimmernden Reisfeldern. Eine ländliche Idylle. Mitten im Dorf liegt die Gedenkstätte, die 1976 eröffnet wurde. Hier, am Eingang, empfängt mich Pham Thanh Cong, der heute als Museumsdirektor arbeitet: "Meine Geschwister und meine Mutter wurden damals von amerikanischen Soldaten in einen Bunker getrieben." Elf Jahre war er 1968 alt. Bis heute hat sich kaum jemand für seine Geschichte interessiert. Jetzt ist Pham Thanh Cong der letzte Augenzeuge: "Dann bewarfen uns die Soldaten mit Handgranaten und schossen mit Gewehren auf uns."

Pham Thanh Cong ist ein hagerer Mann. Er fährt fort mit seiner Geschichte: "Alle waren total zerfetzt, aber mit ihren Körpern haben sie mich beschützt. Ich war verletzt und lag bewusstlos zwischen all den Leichen. Nachdem die Amerikaner abgezogen waren, kamen Bewohner aus den anderen Dörfern und brachten mich in die Notfallaufnahme."

Seine kleinen dunklen Augen erscheinen unnahbar, undurchdringlich. Bezeugen sie das Grauen, die Verwundungen von damals? Verletzungen, die äußerlich nicht sichtbar sind? "Nach der Befreiung hatte ich ein schreckliches Leben - ohne Kindheit, ohne Vater und Mutter", erzählt er. Pham Thanh Cong lebte bei Verwandten. Die Regierung schickte ihn in die Schule bis zu dem Tag, als der Süden besiegt war. Später besorgte man ihm eine Beschäftigung. "1992, als man meine Voraussetzungen und meine Umstände als Waise überprüft hatte, schickte man mich hierher." Man hielt Pham Thanh Cong für geeignet und betraute ihn mit der Leitung der Gedenkstätte.

"Es ruft in mir Gewissensbisse hervor, überlebt zu haben. Aber es ist meine Pflicht, Ihnen von dem Massaker zu berichten, damit Sie es verstehen können und Anteil an unserer Trauer haben und an der unseres Volkes." Er ist ein höflicher Mensch. Aufmerksam. Strenge, fast militärische Ausstrahlung. Jemand, der pathetisch von der Trauer seines Volkes erzählt. Auswendig gelernte Floskeln? Ein Tribut an die Medienlogik? Pham Thanh Cong serviert Tee mit Keksen und erzählt vom Albtraum seines Lebens.

16. März 1968: Die Hubschrauber der US-Armee steigen auf. Soldaten der Charlie-Company sind auf dem Weg zum "Einsatzort". Ihr Auftrag: Aufspüren von Angehörigen des Vietcong, der südvietnamesischen Kommunisten. Die Einheit war Weihnachten 1967 nach Vietnam verlegt worden und verlor in den folgenden drei Monaten vielleicht 15 oder 20 ihrer hundert Mann. Den Feind bekamen sie niemals zu Gesicht. Der 24 Jahre alte Lieutenant William Calley hat das Kommando: "Ich stand allein an einem großen Backsteinhaus und schaute hinein. An der Feuerstelle stand ein Vietnamese, am Fenster ein anderer, und ich knallte sie ab, killte sie. Und seltsam - es machte mir einfach nichts aus", erinnert sich Calley in seinem Buch "Ich war gern in Vietnam".

Immer wieder sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Die Bewohner mit Bajonetten und Messern verstümmelt. My Lai ist ein Schlachthaus mit 504 ermordeten Kindern, Frauen und Männern. "Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht", wird später General William Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam, telegrafieren.

Einer aber wagt den bedrängten Dorfbewohnern zu helfen: Der Hubschrauberpilot Hugh Thompson lässt 16 Vietnamesen ausfliegen. Seine beiden Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn halten die mordbereiten Kameraden in Schach. Thompson befiehlt zu schießen, falls Soldaten der Charlie-Company versuchen, die Rettungsaktion zu verhindern.

Knapp ein Jahr lang gelingt es der Armee, das Massaker zu verheimlichen. Bis ein Kriegsveteran den Stein ins Rollen bringt, einen Bericht anfertigt, an das Verteidigungsministerium und Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses verschickt. Der Journalist Seymour Hersh recherchiert die Hintergründe, reist kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten auf der Suche nach Mitgliedern der Charlie-Company. Hersh bietet seine Geschichte dem "Life"-Magazin und anderen Zeitschriften an. Alle lehnen ab oder nehmen die Hinweise auf das Verbrechen nicht ernst. Zunächst jedenfalls.

Schließlich gelingt es Hersh doch noch, den Bericht im November 1969 zu veröffentlichen. Erste Bilder vom Massaker tauchen auf, die der Armeefotograf Ronald Haeberle gemacht hat. Die Öffentlichkeit bekommt Berge von Leichen zu sehen, gefolterte und verstümmelte Körper. Die Amerikaner sind schockiert: GIs von den Medien als eine Bande von Massenmördern entlarvt.

Heute hängt am Eingang der Gedenkstätte My Lai eine riesige schwarze Gedenktafel. Die eingravierten Namen der Ermordeten. Weiß auf Schwarz. Daneben: lebensgroße, menschenähnliche Puppen mit historischen Uniformen kostümiert: GIs, die ihre Maschinengewehre anschlagsbereit in der Hand halten. Soldaten, die im nächsten Moment vietnamesische Bauern erschießen werden. Eine gestellte Szene - wie aus dem Naturkundemuseum.

Vor allem vietnamesische Besucher kommen nach My Lai, erzählt Pham Thanh Cong. Die meisten ausländischen Gäste sind Amerikaner - Kriegsveteranen, Studenten und Wissenschaftler. Knapp 40 000 Besucher jährlich. Umgerechnet 60 Cent kostet der Eintritt. "Wenn mich Journalisten interviewen, kann ich vorher nicht schlafen", erzählt er. Die Bilder der Erinnerung würden immer in seinem Gedächtnis aufblitzen. Noch immer höre er Bomben einschlagen und weinende Stimmen.

"Nach Kriegsende hassten wir die Amerikaner sehr", sagt Pham Thanh Cong, "aber heute, in der Zeit des Friedens und der Öffnung, pflegen wir freundschaftliche Beziehungen und hegen keinerlei Rachegefühle." Jetzt fotografieren hier Touristen, Kriegsveteranen, Schüler und Journalisten. Eine Landschaft von 504 Toten. Das Grauen ist verschwunden. Keine Schreie, keine Angst, kein Massengrab, keine Gebeine, keine Knochenreste. Die betuliche Ästhetik des leeren Ortes. 40 Jahre nach dem Gewaltakt herrscht die Stille der Verwüstung.

Pham Thanh Cong überreicht mir einen kleinen Handzettel. Zweisprachig: Vietnamesisch und Englisch. Ich lese, dass My Lai zu den schönsten Dörfern der Gegend gehöre. Es sei berühmt für seinen Patriotismus. Viele Helden der vietnamesischen Geschichte hätten hier das Licht der Welt erblickt. Heute sind die Menschen fleißige Arbeiter. Und friedliebend. Kommunistische Staatsideologie, denke ich mir. Unbeholfen formuliert und siegverheißend. Über die Niederlage zum Sieg.

Nach Kriegsende und der Wiedervereinigung Nord- und Süd-Vietnams sei das Leben in das Dorf zurückgekehrt, heißt es in der Broschüre. Der wunderbare Strand locke vor allem Touristen an. Ein Golfplatz und ein Luxushotel sind geplant. Eine private karitative Organisation aus den USA hat Geld für den Aufbau eines kleinen Krankenhauses gespendet.

Seymour Hersh gewann 1970 mit seiner Geschichte über das Massaker von My Lai den renommierten Pulitzerpreis. Kürzlich hat Hersh die Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib enthüllt, die Massaker im ersten Golfkrieg und die Manipulationen der US-Regierung vor dem zweiten Golfkrieg.

1971 hat ein US-Kriegsgericht William Calley zu lebenslanger Haft verurteilt. Präsident Nixon begnadigte ihn aber bald. Seit 1974 lebt Calley in seiner Heimatstadt Columbus. Hugh Thompson, Lawrence Colburn und Glenn Andreotto bekamen 1998 die Soldier's Medal der US-Army als höchste Auszeichnung für ihre lebensrettende Tapferkeit verliehen.

Pham Thanh Cong lebt heute mit seiner Familie in My Lai. "Weder ich noch die Regierung haben von den Amerikanern etwas zur Unterstützung oder als Entschädigung erhalten."

Nicht Bitterkeit schwingt in seinen Worten, sondern Stolz und Empörung.