Seit der Wiedervereinigung 1967 haben 300 000 Juden ihre Hauptstadt verlassen. Die Armut wächst. Und die religiösen Konflikte scheinen unüberwindbar.

Jerusalem. "Der Tempelberg ist in unserer Hand!" Dieser Satz, den der israelische Kommandeur Motta Gur gegen zehn Uhr vormittags am dritten Kriegstag an den Generalstab funkte, machte vor vierzig Jahren Schlagzeilen. Die fassungslosen Gesichter der erschöpften Fallschirmspringer an der Klagemauer wurden zum Symbol für die Verwirklichung des uralten Traums von der Rückkehr Jerusalems unter jüdische Herrschaft. Die Welt bewunderte ganz unverhohlen, wie der kleine israelische David in nur sechs Tagen Anfang Juni 1967 den arabischen Goliath in die Knie zwang, den Sinai, das Westjordanland, die Golanhöhen und vor allem die Altstadt von Jerusalem eroberte.

Das alles ist 40 Jahre her. Wer das Jerusalem des Jahres 1967 gekannt und die Stadt in der Zwischenzeit nicht besucht hat, wird sich heute wohl kaum mehr zurechtfinden. Modernste Autobahnen durchschneiden das noch vor einem Jahrhundert unwegsame Gebirge. Die Entfernung zwischen Tel Aviv und Jerusalem, für die man im 19. Jahrhundert noch zwei Tage benötigte, ist auf 40 Autominuten geschrumpft. Wo sich noch vor wenigen Jahren Schakale und Gazellen Gute Nacht sagten, protzen heute Hightech-Industrieanlagen. Jerusalem ist zur größten Stadt Israels geworden, dreimal so groß wie Tel Aviv, in der zehn Prozent aller Israelis leben. Von den 720 000 Einwohnern sind 66 Prozent Juden und 34 Prozent Araber.

Althergebrachte religiöse Grundsätze im Blick auf Jerusalem sind im Umbruch. Seit jeher verboten orthodoxe Rabbiner ihren Gläubigen das Betreten des Tempelbergs in Jerusalem, weil dann die Gefahr besteht, aus Versehen heiligen Boden zu betreten, den ein normal Sterblicher nicht betreten darf. Jetzt besuchten erstmals 30 national-religiöse Rabbiner das Gelände, auf dem einst der jüdische Tempel stand, nachdem sie sich zuvor kultisch gereinigt hatten. Die jüdischen Geistlichen wollten damit die Verbindung ihres Volkes zum heiligsten Ort des Judentums stärken.

Auch die Atmosphäre in Jerusalem hat sich dramatisch verändert. Die Euphorie ist der Ernüchterung gewichen, die internationale Bewunderung der Kritik. 1980 hatte das israelische Parlament das wiedervereinte Jerusalem per Gesetz zur Hauptstadt des Staates Israel erklärt. Spontan zogen sich damals 22 von 24 Botschaften nach Tel Aviv zurück. Mittlerweile anerkennt kein einziges Land der Erde mehr Israels Anspruch auf Jerusalem als Hauptstadt. Zwar hat der amerikanische Kongress vor zwölf Jahren noch einen Gesetzesentwurf beschlossen, der die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem vorsah. Aber der offiziellen Feierstunde in der Knesset blieb nicht nur der deutsche Botschafter Harald Kindermann als Vertreter der EU fern, sondern auch sein amerikanischer Kollege Richard Jones. Aus internationaler Sicht ist und bleibt der Status von Jerusalem umstritten.

Jerusalem ist eine der ärmsten Städte Israels. 2006 lebten 36 Prozent der Familien in der Stadt unter der Armutsgrenze. Jüdische Israelis verlassen ihre Hauptstadt. Bereits seit 1978 ist dieser Trend unverkennbar. Seit ihrer Wiedervereinigung im Jahre 1967 haben ungefähr 300 000 jüdische Einwohner Jerusalem den Rücken gekehrt. 2006 sind 17 200 Israelis weg-, aber nur 10 900 zugezogen.

Trotzdem ist die jüdische Bevölkerung Jerusalems seit 1967 um 143 Prozent gewachsen. Doch die Araber Jerusalems haben sich im gleichen Zeitraum um 266 Prozent vermehrt. Wenn die bestehenden Trends anhalten, erwartet der führende Demograf der Hebräischen Universität, Sergio Della Pergola, dass bis in 25 Jahren etwa genauso viele Araber wie Juden in der Hauptstadt des jüdischen Staates wohnen werden. Wenn die arabischen Bürger Jerusalems die Kommunalwahlen nicht boykottieren würden, könnten sie heute schon einen Araber zum Bürgermeister wählen. Jerusalems orthodoxer Bürgermeister Uri Lupolianski meint, die Hamas könne innerhalb von zwölf Jahren die Stadt allein durch die Bevölkerungsentwicklung übernehmen.

Bemühungen, den jüdischen Charakter der Hauptstadt zu stärken, haben sich als kontraproduktiv erwiesen. Das zumindest meint der ehemalige Regierungsberater Mosche Amirav. Durch die Annexion nicht nur Ostjerusalems, sondern auch von 28 umliegenden Dörfern und den damit verbundenen Sonderstatus für die Jerusalemer Palästinenser wurde Jerusalem zu einem Anziehungspunkt für Araber aus Judäa und Samaria. Der Bau der Mauer in Ostjerusalem hat dazu geführt, dass 40 000 Palästinenser auf die Westseite der Mauer umgezogen sind, um ihren Sonderstatus zu sichern. Der Bau eines Siedlungsrings im Osten um Jerusalem herum führte dazu, dass 120 000 jüdische Einwohner die Enge der verarmten Stadt verließen. "Wir haben heute schon - angesichts der Araber und der ultra-orthodoxen Juden, die den Staat Israel als Gotteslästerung ablehnen - eine antizionistische Mehrheit in Zion", befürchtet Amirav.

Von einer Friedenslösung ist die Stadt, die den "Schalom" (Frieden) im Namen trägt, so weit wie eh und je entfernt. Israel hat sich bemüht, die heiligen Stätten aus dem Konflikt herauszuhalten. Doch diese wurden immer mehr zum Herzstück des Konflikts. Weil Israel seine Feste nach dem jüdischen Kalender festlegt, fällt der Jerusalem-Tag diesmal nicht auf den Beginn des Juni, sondern auf diesen Mittwoch - und mithin fast genau mit dem Tag zusammen, an dem die Palästinenser der "Nakba", der "Katastrophe" der Gründung des jüdischen Staates, gedenken.

"Was die Israelis als Vereinigung bezeichnen, ist für mich die Besatzung der Stadt", klagt der ehemalige palästinensische Staatsminister Siad Abu Sayyad: "Weil die Israelis zwar unseren Besitz annektiert haben, aber nicht uns, wurden wir im Juni 1967 von einem Tag auf den anderen zu Touristen im eigenen Land." Die Zeit der jordanischen Besatzung verteidigt er vehement als "Paradies", obwohl er gleichzeitig erzählt, "dass die Palästinenser ständig unter dem Verdacht standen, der jordanischen Herrschaft gegenüber nicht loyal zu sein."

Überhaupt mischen sich Mythen und Fakten wie so oft in der Heiligen Stadt zu einem wirren propagandistischen Durcheinander. Entgegen dem offiziellen arabischen Sprachgebrauch erklärt Abu Sayyad, dass die "Apartheids-Mauer" nicht etwa Juden von Arabern trenne - wie das vor 1967 der Fall war -, sondern Araber von Arabern.

"Jeder soll in Jerusalem seine eigenen heiligen Stätten verwalten und dort beten", fordert Siad Abu Sayyad und verschweigt, dass genau das den Juden vor 1967 an der Westmauer verwehrt war, allen internationalen Absprachen zum Trotz. Aber vielleicht ist das ja auch kein Widerspruch, denn selbst aus Sicht dieses als gemäßigt geltenden Palästinenserführers ist die von den Arabern "al-Buraq" genannte Klagemauer ein Teil des Haram a-Scharif und damit eine moslemische heilige Stätte.

Derweil bemühen sich Juden wie Araber, Israelis und Palästinenser, ihre Ansprüche in Beton zu gießen. Illegale Bautätigkeiten mit politischen Zielen machen die Heilige Stadt nach Ansicht von Mosche Amirav zu einem städtebaulichen Wilden Westen. Die jüdischen Stadtteile mit mehr als 200 000 Einwohnern sind illegal nach internationalem Recht. Und im Ostteil wurden allein in den 80er- und 90er-Jahren mehr als 20 000 arabische Häuser gebaut, die nach israelischem Recht illegal sind.

Doch trotz aller unlösbaren politischen Probleme, trotz überdurchschnittlicher Armut und Arbeitslosigkeit, trotz unüberwindbarer religiöser Gegensätze, trotz des Mangels an Fernseh-, Kabel- und Internetanschlüssen: Die Jerusalemer sind optimistischer als der Durchschnitt der israelischen Bevölkerung. Das zumindest meint das israelische Amt für Statistik feststellen zu können. Und noch eines gibt Hoffnung: Jerusalem ist eine junge Stadt. 35 Prozent seiner Einwohner sind unter 14 Jahre alt. Damit hat die Heilige Stadt proportional doppelt so viele Kinder wie Haifa oder Tel Aviv.