Sie sind die wahren Herren am Hindukusch: die Stammesfürsten von Afghanistan. Sie respektieren weder Landesgrenzen noch die Einsatzzonen der Nato. Allein ihr mächtigster Führer kommandiert 12000 Partisanen im Kampf gegen den Westen.

Hamburg. Hamid Karsai ist offiziell Staatspräsident von Afghanistan. Das klingt sehr eindrucksvoll, schließlich ist Afghanistan fast doppelt so groß wie Deutschland und hat immerhin gut 30 Millionen Einwohner. Sehr inoffiziell wird Karsai auch "Oberbürgermeister von Kabul" genannt. Das klingt weniger eindrucksvoll, schließlich ist die gut drei Millionen Einwohner zählende Stadt in weiten Teilen ein Trümmerfeld. Zwar trugen auch Afghanistans alte Herrscher bis vor 2000 Jahren den Titel "Könige von Kabul" - aber diese Monarchen verfügten noch über echte Macht. Karsai nicht. Er stammt aus dem einflussreichen Popalzai-Clan. Doch sein großer Makel ist, dass er als politisches Ziehkind der USA gilt. Dort lebte er zeitweise bei seiner Familie.

Die wahre Macht in Afghanistan liegt nicht in den Händen gewählter Repräsentanten. Sie liegt in den Händen der Warlords, regionaler Kriegsherren, sowie der radikalislamischen Taliban-Milizen. Die afghanische Machtstruktur erinnert an das feudale Japan, wo sich mächtige Regionalfürsten, die Daimyos, mit ihren Samurai-Heeren bekriegten und lebhaft Allianzen wechselten.

Kompliziert wird das Machtgefüge am Hindukusch durch ethnische Zugehörigkeit. Die Bevölkerung Afghanistans gleicht einem Minoritätenmosaik aus vier großen und zahlreichen kleineren Volksstämmen. Hauptgruppe sind die Paschtunen, die rund 40 Prozent der Bevölkerung stellen. Sie waren im 19. Jahrhundert von den britischen Kolonialherren an die Macht gehievt worden, fühlen sich als Herrenvolk und wollen als beste Krieger der Welt gelten. Auch Karsai ist Paschtune.

Mit rund 30 Prozent Anteil sind die Tadschiken Nummer zwei. Sie sind persischer Abstammung. Knapp 10 Prozent stellen die schiitischen Hazara, von denen einige Historiker sagen, sie seien Nachkommen der Heere Dschingis Khans. Sie wurden wegen ihres Glaubens blutig von den sunnitischen Taliban verfolgt.

Das sunnitische Turkvolk der Usbeken schließlich ist mit rund acht Prozent der Afghanen dabei. Hinzu kommen Volksgruppen wie die Aimaken, die Belutschen, die Nuristani und die Turkmenen.

Noch komplizierter wird die Machtstruktur dadurch, dass die zu 99 Prozent muslimischen Afghanen in Sunniten (vier Fünftel) und Schiiten (ein Fünftel) zerfallen.

Der erbittertste Gegner der prowestlichen Regierung von Hamid Karsai und der USgeführten Kampftruppen sind die Taliban. Materiell und finanziell unterstützt von Pakistan aus, haben die Koran-Schüler - das bedeutet das Wort Taliban - eine tödliche Allianz mit Osama Bin Ladens Terror-Netzwerk al-Qaida gebildet.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 von US-Truppen von der Regierungsmacht vertrieben, haben die Taliban wieder Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Sie werden der radikal-sunnitischen Strömung des saudischen Wahhabismus zugerechnet, der auch Bin Laden angehört. Ihr Führer Mullah Omar, einst De-facto-Staatschef Afghanistans, hat in Mullah Dadullah einen mächtigen Feldkommandeur.

Dadullah gehört zum inneren Führungskreis der Taliban; diesen zehn Personen, über denen nur noch Mullah Omar steht, sollen jeweils afghanische Regionen als eigene Machtbereiche zugewiesen worden sein. Allein Mullah Dadullah kommandiert nach eigenen Angaben 12000 Kämpfer und kontrolliert angeblich 20 Distrikte.

Der Islam-Gelehrte aus Kandahar: Zahlreiche Terroranschläge

Der Paschtune, der durch eine Landmine ein Bein verlor, gilt als strategischer Führer der Taliban-Offensive. Mehrfach entging er in letzter Sekunde der fast sicheren Gefangennahme. Der Islam- Gelehrte aus Kandahar, der zahlreiche Terroranschläge geplant haben soll, hat im Laufe seiner Kampf-Karriere diverse Allianzen geschlossen und kann alte Schulden einfordern.

So sollen ihm im Jahre 2001 ausgerechnet Offiziere seines Erzfeindes General Raschid Dostum zur Flucht vor den anrückenden Amerikanern verholfen haben. Dadullah und der Usbeke Dostum waren zehn Jahre zuvor Verbündete im Kampf gegen die Sowjets gewesen, verfeindeten sich dann aber. Dostum ist einer der mächtigsten und grausamsten Warlords. Seit April 2005 Generalstabschef Afghanistans, hatte Dostum Mitte der Neunzigerjahre neben dem furchterregenden Paschtunen Gulbuddin Hekmatyar gegen die Taliban gekämpft - heute sind sie verfeindet.

Von Dostum wird berichtet, er habe als einer der Führer der Nordallianz im November 2001 unter den Augen seiner amerikanischen Verbündeten 3000 gefangene Taliban zu je 300 Personen in luftdichte Container gepfercht und diese in die glühende Wüste karren lassen. Es hieß, die wenigen Überlebenden seien erschossen und Hunden zum Fraß vorgeworfen worden. Sein ehemaliger Alliierter und jetziger Feind Hekmatyar, der sich noch in den Neunzigerjahren blutige Kämpfe mit den Taliban-Truppen von Mullah Dadullah geliefert hatte, hat sich nun Taliban und al-Qaida angeschlossen. Ebenso wie Dadullah steht er auf der Liste der von den USA meistgesuchten Terroristen.

Im Kampf gegen die Sowjets war der Zögling des pakistanischen Geheimdienstes ISI noch enger Verbündeter der USA und später zweimal Ministerpräsident Afghanistans. Der Paschtune ist Gründer der islamistischen Partei Hisb al-Islami, die heute mit 34 Abgeordneten im Kabuler Parlament sitzt. Und entgegen allen Beteuerungen soll Warlord Hekmatyar noch immer die Fäden ziehen.

Vor Jahren hatte sich ein anderer radikaler Mullah, Mohammed Yunus Khalis, im Streit mit Hekmatyar aus der Führung der Hisb al-Islami zurückgezogen und eine eigene Partei gegründet. Mullah Dadullah gelang es mit großem diplomatischen Geschick, die beiden verfeindeten Islamisten als Verbündete auf die Seite der Taliban zu ziehen. Und noch ein Warlord spielt eine dubiose Rolle im Machtpoker am Hindukusch. Der paschtunische Mullah Jalaluddin Haqqani, einst Feldkommandeur im Kampf gegen die Sowjets unter Hekmatyar und später Justizminister in Kabul mit engen Bindungen an die CIA, soll heute die Taliban-Truppen im Grenzgebiet zu Pakistan anführen. Karsai soll ihm den Posten des Premierministers angeboten haben.

Eine weitere bedeutende Figur ist der tadschikische Warlord Ismail Khan. Der "Löwe von Herat" und früherer Gouverneur der gleichnamigen Stadt und Provinz, leistete den Taliban einst erbitterten Widerstand und schmachtete drei Jahre lang in deren Kerkern. In einer spektakulären Operation wurde er von seinen Kämpfern befreit. Nach dem Sieg der USA über die Taliban 2001 herrschte Ismail Khan über große Teile Westafghanistans. Er gilt als ebenso gerissen wie grausam. Einen permanenten Streitpunkt mit der Zentralregierung bildeten die Zolleinnahmen aus dem Verkehr mit dem Iran und Turkmenistan.

Karsai ernannte den Kriegsherrn zum Energieminister

Die auf mehr als 200 Millionen Dollar geschätzten Einnahmen wanderten vor allem in die Taschen des Ismail-Clans. Karsai setzte Khan im September 2004 mit Hilfe von US-Truppen als Gouverneur ab. Doch um den Kriegsherren und dessen rund 30000 Kämpfer nicht gegen sich aufzubringen, ernannte ihn Karsai zum Energieminister.

Die Afghanen seien ein zähes, freiheitsliebendes Volk mit unbezwinglichem Hass auf jede Herrschaft, aufgeteilt in Clans unter feudaler Oberherrschaft, schrieb einst ein prominenter Afghanistan-Kenner - am 10. August 1857. Der Mann hieß Friedrich Engels. An seinem Urteil hat sich bis heute nichts geändert.