Ein Ex-KGB-Agent beschuldigt Putin im Internet pädophiler Neigungen und wird fünf Monate später in London vergiftet. Freunde des Opfers beschuldigen die russische Regierung, Drahtzieher des Mordanschlags zu sein. Moskau bestreitet das vehement.

London - Der 28. Juni 2006, ein warmer, sonniger Tag in Moskau. Entspannt geht Wladimir Putin in den Außenanlagen des Kreml auf eine Gruppe Touristen zu. Vor einem fünfjährigen Jungen bleibt er stehen, geht in die Hocke und plaudert auf Augenhöhe ein paar Worte mit ihm. Plötzlich streift er dem Kind das ärmellose T-Shirt hoch - und küsst es auf den nackten Bauch.

Putin erklärt in einem BBC-Interview dazu, er habe den Jungen "knuddeln wollen wie ein Kätzchen. Dabei kam es zu dieser Gebärde." Kreml-Beobachter werten sie als plumpen Versuch Putins, sich ein weicheres, demokratisch anmutendes Image zu verschaffen. Aber ist diese befremdliche Bauchkuss-Szene auch der Schlüssel zur Aufklärung eines Giftmordanschlags in London fünf Monate später?

Denn eine Woche nach der merkwürdigen Kuss-Szene, am 5. Juli, erscheint auf der Website "Chechenpress" ein bizarr anmutender Artikel des Ex-KGB-Agenten Alexander Litwinenko, in dem er dem Kreml-Chef pädophile Neigungen unterstellt: "Die Weltöffentlichkeit ist schockiert. Niemand kann verstehen, warum der russische Präsident etwas so Absonderliches tut, wie einen wildfremden Jungen auf den Bauch zu küssen... Man mag eine Erklärung dafür finden wenn wir uns sorgfältig die weißen Flecken in Putins Biografie anschauen."

Wer war der mysteriöse Wladimir, der zum Tee erschien?

Wieder einmal fiel Litwinenko den Kreml-Herren unangenehm auf. 2003 hatte er ein Buch veröffentlicht, in dem er den russischen Inlandsgeheimdienst für Bombenanschläge auf Moskauer Wohnhäuser verantwortlich machte (die offiziell tschetschenischen Terroristen in die Schuhe geschoben wurden). In letzter Zeit beschäftigte er sich intensiv mit dem Mord an der Putin-kritischen Journalistin Anna Politkowskaja. Sie wurde am 7. Oktober von "Unbekannten" erschossen - man darf vermuten: wegen ihres Engagements gegen Putins Tschetschenien-Politik.

London, 1. November. Alexander Litwinenko (43), der in London politisches Asyl genießt, wird schwer krank in eine Klinik eingeliefert. Zuvor hatte er sich mit dem italienischen Parlamentsberater Mario Scaramella in einem Sushi-Restaurant getroffen. Scaramella hatte Unterlagen, aus denen hervorging, dass Litwinenko möglicherweise ein Anschlag drohte. Vorher hatte Litwinenko mit zwei Russen in einem Hotel Tee getrunken. Einer war ein alter Bekannter, der ehemalige KGB-Agent Andrej Lugowoi, der noch einen "Wladimir" mitgebracht hatte, der nichts über seine wahre Identität und schon gar nichts über den Grund für sein Erscheinen zum Tee verriet.

Ein paar Stunden später ging es Litwinenko schlecht. Er starb am Donnerstagabend. Knochenmark und Leber waren schwer angegriffen, seine Haare ausgefallen, das Immunsystem war zusammengebrochen. Wenige Stunden vor seinem Tod stellten Ärzte in seinem Urin große Mengen der radioaktiven Substanz Polonium 210 fest. Die britische Behörde für Gesundheitsschutz: Die hohe Konzentration weist darauf hin, dass er die Substanz gegessen, inhaliert oder über eine Wunde aufgenommen haben muss.

Litwinenkos Freunde und er selbst in seinem letzten Interview beschuldigten Putin, Drahtzieher dieses Giftanschlags zu sein. Putin selbst wies das am Rande des EU-Gipfels zurück: "Solche Spekulationen sind unbegründet."

Die Wahrheit kennt vermutlich jener "Wladimir". Aber der ist verschwunden, vermutlich längst außer Landes.