Nahost: Sie nennt sich älteste Stadt der Welt. Hier starb Herodes und wurde Jesus getauft. Mehrfach lag sie in Schutt und Asche und erstand von neuem. 1967 eroberten die Israelis sie. Jetzt wollen sie Jericho den Palästinensern zurückgeben.

Hamburg. "Da machte das Volk ein Feldgeschrei, und man blies Posaunen . . . Und die Mauern fielen um, und das Volk erstieg die Stadt, ein jeglicher stracks vor sich. Also gewannen sie die Stadt und verbannten alles mit der Schärfe des Schwertes, Mann und Weib, jung und alt, Ochsen, Schafe und Esel."

Drei Jahrtausende nach der blutrünstigen Erzählung aus dem biblischen Buch Josua geben die Nachfahren der Sieger von einst die Stadt den Bewohnern zurück: Nach dem Abzug der Israelis soll Jericho bald wieder ganz den Palästinensern gehören.

Die Entscheidung betrifft siedlungs- und heilsgeschichtlich bedeutsamen Boden: Jericho gilt als erste Stadt der Menschheit und ist, 250 Meter unter dem Meeresspiegel, die am tiefsten gelegene der Welt. Sie sah den ersten Sieg Israels beim Einzug in das Gelobte Land, und eine ihrer Töchter wurde Stammmutter des Gottessohns. Hier wurde König Zidkija von den Babyloniern gefangen, hier starb der Kindermörder Herodes, wurde Jesus getauft und vom Satan in Versuchung geführt. Immer wieder Bühne göttlicher Machtbeweise, bleibt die Stadt dennoch Außenseiterin: nie ganz heilig, nie ganz heidnisch bewahrt sie dicht am Zentrum weltgeschichtlicher Ereignisse bis in unsere Zeit ihre ganz eigene Bedeutung.

34 Kilometer östlich von Jerusalem, dem Berg Zion, ist Jericho seit uralten Zeiten eine Königin eines Tieflandes, eine Oase voller Palmen, uralte Pilger- und Karawanenstation, Beherrscherin der Furten durch den Jordan, aber auch Einfallstor mächtiger Invasoren - die ersten Kriegsfackeln lodern schon durch prähistorische Finsternis: Die Urbewohner, jungsteinzeitliche Jäger, Sammler und Fischer, bauen vor 10 000 Jahren ihre Hütten an die sprudelnde Quelle, die heute "Ain-es-Sultan" heißt. Die ersten Steinhäuser tausend Jahre später sehen noch wie Nomadenzelte aus. "Die weitaus älteste Stadt der Welt", sagt die britische Archäologin Kathleen M. Kenyon gleich bei der Ausgrabung 1953. Später wird die Behauptung strittig, denn andere Forscher orten in Kleinasien gleichalte oder angeblich sogar noch ältere Siedlungen, doch den Ruhm Jerichos kann kein anderer Fundort verdunkeln.

Der Ur-Jordan fließt durch eine tropische Welt: In seinen Sümpfen hausen Nilpferde und Krokodile, durch die dichten Uferwälder streifen Nashörner und Elefanten. Jerichos erste Bewohner kennen weder Töpferware noch Metall. Sie pflanzen Datteln, züchten Vieh, fischen mit Feuersteinhaken - und schützen sich schon um 7000 v. Chr. durch eine 1,75 Meter hohe Mauer aus Stein. Ein erster Urzeit-Krieg zerstört die Stadt, zweimal wird sie wieder aufgebaut. Um 5000 v. Chr. brennen Eroberer sie nieder, und durch zwei Jahrtausende bleibt die Stätte wüst.

Dann ist das Klima trockener, jenseits das Jordantals breiten sich Wüsten aus. In der frühen Bronzezeit um 3000 v. Chr. entsteht Jericho neu - und geht wieder in Flammen auf. Um 1800 erneuern die nomadischen Hyksos die Mauer und verstärken sie mit einem Graben, ehe sie nach Ägypten weiterziehen - es ist die Zeit Jakobs und seines Sohnes Joseph, der in Ägypten zum Großwesir aufsteigt.

Um 1550 schlagen die Pharaonen zurück und fallen in Palästina ein, Amosis legt Jericho in Schutt und Asche. Erst 200 Jahre später wagen sich wieder Siedler auf den Schütthügel mit der wertvollen Quelle. Hinter einer Doppelmauer entsteht eine dichtbevölkerte Stadt mit dem Luxus der Zeit; Archäologen finden später Weinpressen und Flöten. Die Bewohner korrespondieren in Keil- und Hieroglyphenschrift mit Memphis und Babylon, handeln mit Phöniziens Seefahrern und Syriens Nomaden, zahlen den Ägyptern Tribut und handeln sich dafür soviel Sicherheit ein, wie in jener Zeit für Gold zu haben ist.

Die Israeliten, um 1100 vor den Ägyptern aus dem Nildelta geflohen, haben keine Belagerungsmaschinen und keine Artillerie, aber einen frisch gestärkten Glauben: Der Jordan, zu anderen Zeiten ein reißender Strom, schwindet vor ihren Füßen zu einem Rinnsal. Als sie dennoch den Mut verlieren, "machte Josua sich steinerne Messer und beschnitt alle Kinder Israels" - eine so schmerzhafte wie nachdrückliche Erinnerung an den Erzvater Abraham, den Urheber dieses Brauchs, dem Gott einst alles Land bis zum Euphrat versprach.

Zwei Kundschafter Josuas schleichen nach Jericho und finden im Haus der Prostituierten Rahab dicht an der Stadtmauer Unterschlupf. Als der König seine Krieger nach Spionen suchen läßt, versteckt Rahab die Israeliten unter Flachsstengeln, die auf ihrem Dach ausgebreitet sind, denn: "Ich weiß, daß der Herr euch das Land gegeben hat." Die Geretteten versprechen, nach der Eroberung sie und ihre Familie zu verschonen.

"Laß alle Kriegsmänner rings um die Stadt gehen einmal, und tue sechs Tage lang also", befiehlt Gott dann dem Feldherrn und Moses-Nachfolger Josua, "und laß sieben Priester sieben Posaunen des Halljahrs tragen vor der Lade her, und am siebten Tage geht siebenmal um die Stadt, und laß die Priester die Posaunen blasen, . . . so werden der Stadt Mauern umfallen."

Das Halljahr oder "Jahr des Freudenschalles" der Hörner wird alle 50 Jahre gefeiert und dient vor allem als Glaubensprobe - so wie auch hier: Die Mauern stürzen ein, die Israeliten machen die Bewohner nieder - nur Rahab und ihre Familie bleiben am Leben. Mehr noch, Rahab wird sogar eine Stammutter Jesu: Ihr Sohn Boas heiratet Ruth, ihr Enkel Obed wird Vater von Isai, dessen Sohn David Israels König wird.

Wie viele andere Wunder der Bibel wollen Wissenschaftler auch den Sturz der Mauern physikalisch erklären: Archäologen stellten fest, daß die äußeren Steine des Doppelrings den Hang hinabgerollt, die inneren dagegen nach innen gefallen waren und die Mauerreste zudem starke Risse und Sprünge zeigen - Spuren eines Erdbebens, dessen Vorbeben schon Erdrutsche auslösten und so den Jordan am Oberlauf stauten?

Rahab ist nicht die einzige Außenseiterin im Stammbaum des Erlösers: Die jung verwitwete Tamar verführt als Prostituierte ihren Schwiegervater Juda, um endlich einen Sohn zu bekommen - es werden zwei. Die arme Ruth gewinnt das Herz des reichen Obed, indem sie sich nachts heimlich zu ihm legt. Die verheiratete Batseba verliebt sich in König David, der ihren Ehemann Urija in den Tod schickt - wichtige Mosaiksteine im Bild eines Erlösers, dessen liebende Sorge zuerst den Sündern, Ausgegrenzten und Verachteten gilt.

Die sieben Umzüge am siebenten Tag sind ebenso Symbol des göttlichen Heilsplans wie der Name des Siegers: "Josua" ist die ältere Form von "Jesus". Der Feldherr will, daß die Besiegte für immer ein Trümmerfeld bleibt: "Verflucht sei der Mann vor dem Herrn, der sich aufmacht und diese Stadt Jericho wieder bauet! Wenn er ihren Grund legt, das koste ihn seinen ersten Sohn: und wenn er ihre Tore setzt, das koste ihn seinen jüngsten Sohn."

Bei der Aufteilung Kanaans fällt das Land an den Stamm Benjamin, berühmt für seine Bogenschützen und Schleuderer - aus ihm geht Israels tragischer erster König Saul hervor. Zur Zeit des Königs Ahab baut Hiel Jericho wieder auf, und der Fluch erfüllt sich: Hiels ältester und jüngster Sohn sterben. Später sieht die Stadt babylonische Invasoren, Roms X. Legion auf dem Durchmarsch nach Jerusalem, die Kreuzritter des Hochmittelalters, die Truppen des Ersten Weltkriegs und die israelische Eroberung im Sechs-Tage-Krieg von 1967.

Jericho - der Name bedeutet wohl "Weg" - beherbergt aber auch eine Prophetenschule. Herodes baut dort seine Sommerresidenz mit Amphitheater, Pferderennbahn und eigener Wasserleitung, und Jesus gibt in dem luxuriösen Badeort dem blinden Bartimäus das Augenlicht wieder. Es ist das letzte Heilungswunder des Herrn auf dem Gang nach Golgatha.