23 Menschen wurden gerettet, Hunderte werden vermisst. Immer mehr Verzweifelte gelangen über die See nach Europa.

Rom. Bis zu 300 Todesopfer befürchten die Hafenbehörden der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa nach ihrer Auswertung der jüngsten Seenotmeldungen aus der Libyschen See. Es könnten aber auch 500 Opfer sein, wie Jean-Philippe Chauzy, der Sprecher der europäischen IOM (International Organisation for Migration) ergänzte.

Italien hat sich in den letzten Jahren an Katastrophenmeldungen aus dem Süden gewöhnt. Allein im vergangenen Jahr haben 33 000 Personen in Libyen versucht, ihr Leben für eine illegale Überfahrt von Afrika an die begehrten Küsten Europas gewissenlosen Seelenverkäufern auf abgewrackten Booten anzuvertrauen. Favorit ihrer Reiseziele ist immer wieder Italien, und immer wieder kommt es bei diesen Fluchtversuchen zu spektakulären Katastrophen in der stürmischen See.

Denn überladen sind die alten Kähne immer, bei schwerer See ist die Katastrophe da auch immer vorprogrammiert. Diesmal jedoch sieht es besonders schlimm aus. Nach ersten Rekonstruktionen sind am Sonnabend drei überladene Schleppkähne bei starkem Wind vor der libyschen Küste gesunken. Ein viertes Boot, das auch in Schwierigkeiten war, wurde von einem italienischen Patrouillenboot der Guardia Finanza zusammen mit einem Boot der libyschen Küstenwache geborgen und in den Hafen von Tripolis zurückgeschleppt. Hier gab es keine Opfer. Von den gesunkenen anderen Lastkähnen wurden 23 Personen gerettet und 21 leblos geborgen, unter ihnen eine Mutter, die einen Säugling an sich geklammert hielt. Mehrere Hundert Menschen würden noch vermisst, hieß es.

Auf dem ersten Boot befanden sich 253 Personen, auf dem zweiten 365. Ein drittes Schiff war von Sid Belal Jansour, einer Vorstadt von Tripolis, aufgebrochen und nach drei Stunden Fahrt 30 Kilometer von der Küste entfernt gesunken. Bei den Überlebenden handelt es sich vor allem um Ägypter, Tunesier und Palästinenser. Bisher sind die meisten Informationen über das Unglück noch sehr konfus. Sicher ist nur, dass alle Flüchtlinge nach Italien wollten - und dass das Unglück Nachahmer nicht im Geringsten schreckt. Schon am Montagabend trafen wieder 153 Bootsflüchtlinge in Scoglitti in der sizilianischen Provinz Ragusa ein. Ein anderes, nur 20 Meter langes Boot war in der Morgenfrühe mit 249 Menschen an Bord, vor allem aus Somalia und Eritrea, in Portopalo eingetroffen. 350 Illegale waren am gleichen Tag von einem italienischen Tanker aus schwerster Seenot gerettet worden, während in Lampedusa festgestellt wurde, dass rund 20 Personen aus dem Auffanglager geflüchtet waren.

Der Generalsekretär der italienischen Bischofskonferenz, Mariano Crociato, betonte, dass alle Immigranten unbedingt in ihrer Menschenwürde respektiert und entsprechend willkommen geheißen werden müssten. Es ist ein trauriges Ritual, während weitere Leichen in Libyen und Lampedusa an die Küsten gespült werden. Der Bergungseinsatz dauere noch an, hieß es gestern Abend aus Tripolis, wo zudem von 500 Flüchtlingen die Rede war, die in den letzten 36 Stunden die gefährliche Reise gewagt hatten. Mittlerweile nehmen Zehntausende Verzweifelte jedes Jahr die enormen Risiken auf sich. Das wohlhabende Europa erlebt eine Völkerwanderung vom Kontinent der Habenichtse. Ab Mai will Italien deshalb mit Libyen gemeinsame Patrouillen zur See beginnen, um die Immigration zurückzudrängen.

Normalerweise stoppt der Menschenschmuggel über die See wegen des Wetters im Oktober, um nach der stürmischen Winterperiode erst im April wieder zu beginnen. In diesem Jahr, sagen Beobachter der IOM hingegen, habe der Verkehr auch im gefährlichen Winter keinen Tag nachgelassen - und keine einzige Nacht.