Das Oberhaupt der Tibeter wählt in seiner Ansprache drastische Worte. China riegelt die Provinz ab. Mit Bildern vom Tibet-Jahrestag.

Singapur. Die endlose Geduld des Dalai Lama ist offenbar am Ende. Seine diplomatische Sanftmut, sein unerschütterliches Lächeln - vorbei. Nie war das geistige Oberhaupt der Tibeter so deutlich wie gestern. Nie zuvor in den vergangenen 50 Jahren hat er China so unverblümt und scharf angegriffen: Seit fünf Jahrzehnten erleide sein Volk unter der chinesischen Besatzung "die Hölle auf Erden", erklärte er in einer Rede zum 50. Jahrestag des tibetischen Volksaufstands. Und er forderte "echte Autonomie" für Tibet.

Offene, drastische Worte: Chinas "repressive und brutale Kampagnen" hätten zum Tod von "Hunderttausenden" von Tibetern geführt, so der Nobelpreisträger in seinem Exil im indischen Dharamsala. "Heute sind die Religion, die Kultur, die Sprache und Identität, die Generationen von Tibetern höher schätzten als ihr eigenes Leben, fast gänzlich ausgelöscht." Man lebe "in ständiger Angst" vor den chinesischen Behörden. "Kurz, die Tibeter werden wie Kriminelle behandelt, die den Tod verdienen."

Ein solch dramatischer Appell ist neu für den Dalai Lama. Seit einigen Monaten scheint der 73-Jährige weniger zuversichtlich, dass sein berühmter "mittlerer Weg" der Gewaltfreiheit doch noch zum Ziel führen kann. Doch er hält unverbrüchlich daran fest: Eines Tages werde die Gerechtigkeit siegen, versicherte er gestern vor rund 2000 Anhängern, "wenn wir weiter den Pfad der Wahrheit und Gewaltfreiheit beschreiten". Eine freundschaftliche Koexistenz beider Völker, das ist sein großer Traum, und dazu rief er gestern seine Landsleute und die Chinesen beschwörend auf. Wenn die Hoffnung der Tibeter auf echte Autonomie innerhalb der Volksrepublik China erfüllt werden könnte, versicherte er, "dann würde das tibetische Volk seinen Beitrag für die Erhaltung von Einheit und Stabilität in China leisten".

Im Moment aber ist China weit von einer friedlichen Koexistenz entfernt: Zum Jahrestag des Volksaufstands hatten die Sicherheitskräfte das tibetische Hochland gestern praktisch abgeriegelt. Peking hatte - aus Angst vor einer Wiederholung der Proteste vom vergangenen Jahr - die Militärpräsenz in der "autonomen Region" massiv aufgestockt. Ob es zu neuen Tumulten, Demonstrationen oder auch nur kleinen Zeugnissen des Gedenkens kam, wie etwa ein zur Schau gestelltes Bild des Dalai Lama, eine tibetische Flagge, ein Lied, weiß niemand. Keine Ausländer, erst recht keine Journalisten waren zugelassen. Telefonleitungen zu großen tibetischen Klöstern in Tibet und den angrenzenden Provinzen Qinghai, Gansu und Sichuan waren unterbrochen. Mobilfunknetze und Internetverbindungen waren ebenfalls gestört. Die Regierung in Peking gab sich dabei demonstrativ gelassen. Tibets offizieller Regierungschef Qiangba Puncog erklärte, die Lage in Lhasa sei "stabil", keine besonderen Vorkommnisse. Gleichzeitig drehte sich die Propagandamühle gegen den Dalai Lama weiter: "Die Dalai-Clique verdreht richtig und falsch und verstreut Gerüchte", so ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums. Tibetische Unzufriedenheit wird geleugnet: "Das tibetische Volk genießt ein stabiles und friedliches Leben", so Chubakang Tubdain Kaizhub, Vorsitzender des tibetischen Zweigs der chinesischen buddhistischen Gesellschaft. Chinas Regierung sperrt sich seit jeher gegen die Versöhnungsversuche des Dalai Lama. Sie dämonisiert ihn, erklärt ihn zum Terroristen.

Dabei sucht er noch die Einigung, während jüngere Aktivisten und Mitglieder der Exilregierung längst eine härtere Gangart anstreben. Sie fordern nicht nur Autonomie, sondern die volle Unabhängigkeit und schrecken vor Gewalt nicht mehr zurück.