Europa - Amerika: Leere Kirchen hier, christlicher Enthusiasmus dort: Die Frage der Religiosität entfremdet immer stärker Alte und Neue Welt.

Hamburg/Washington. Das Problem sei eigentlich nicht, dass heute weniger Menschen in seiner Kirche seien, sagt Reverend Jean François Bordarier, Priester im französischen Lille. "Sondern, dass gar keine mehr da sind." Ähnlich in Italien. Der Römer Sampaolo Servadio (39) ist - obwohl Katholik - seit 20 Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen: "Ich sehe nicht ein, wie eine Beichte und ein paar Ave Maria irgendein Problem lösen sollten." Und der Erzbischof von Mailand, Kardinal Dionigi Tettamanzi, dem Chancen eingeräumt werden, der nächste Papst zu werden, klagt: "Meine Priester erzählen mir, dass manche Kinder nicht mehr das Zeichen des Kreuzes machen können. Und in der Grundschule wissen sie nicht einmal mehr, wer Jesus ist." Religion hat in Europa kaum noch Bindungskraft für die Menschen - während sie in den USA immer stärker das tägliche Leben und die Politik durchdringt. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Europa und Amerika auseinander driften. So jedenfalls lauten die Thesen der "New York Times", die das Phänomen der unterschiedlichen Religiosität seitenfüllend analysierte. Während Religion eine wichtige Rolle in Politik und Gesellschaft spiele und die Weltsicht der Amerikaner entscheidend präge, stellten die Europäer "in aggressiver Weise" traditionelle christliche Lehren in Frage. "In Westeuropa hängen wir nur noch an den Fingernägeln", räumt David Cornick, Generalsekretär der britischen United Reform Church, ein und schließt mit dem dramatischen Urteil: "Es ist eine Tatsache, dass Europa nicht länger christlich ist." Da scheint es nur logisch, dass ein Gottesbezug in der Präambel der EU-Verfassung bislang nicht vorgesehen ist. "Amerikaner nehmen biblische und religiöse Argumente dagegen sehr ernst", sagt der britische Dozent Philipp Jenkins, der Geschichte und Religion in den USA lehrt. In Amerika wirke die religiöse Inbrunst in den Ansprachen von Präsident George W. Bush keineswegs verstörend. "Aber in Europa glauben sie, er sei ein religiöser Trottel." Doch bei aller Religiosität, die in den Vereinigten Staaten ungleich größer und intensiver ist als in Europa, nimmt man es wohl nirgendwo auf der Welt so genau mit der Trennung zwischen Kirche und Staat. Die Einziehung einer Kirchensteuer durch den Staat wäre dort undenkbar. Ebenso haben Richter entschieden, dass auf öffentlichem Grund keine Weihnachtskrippe aufgestellt werden darf. Auch die Platzierung eines Monumentes mit den zehn Geboten in einem Gerichtsgebäude wurde vom Obersten Gerichtshof untersagt. Doch 95 Prozent der Amerikaner glauben an Gott. Neun von zehn US-Bürgern beten regelmäßig, und 41 Prozent gehen jeden Sonntag in die Kirche. Ulrich Wolf-Barnett, Pastor der Deutschen Evangelischen Kirchengemeinde in Washington, sagt zu den Ursachen: "Das Angebot an verschiedenen Gemeinden ist hier größer als in Deutschland." Der gebürtige Bonner, der seit zwölf Jahren in den USA lebt, spricht vom "Kirchensupermarkt", wo jeder Gläubige das Gewünschte findet. Die großen, nicht selten etwas verknöcherten Denominationen wie Presbyterianer, Methodisten oder Baptisten haben es in den USA ähnlich schwer wie die Katholische oder Protestantische Kirche in Deutschland. Ihnen laufen viele Gläubige weg, um zu den Mormonen oder Wiedergeborenen Christen zu gehen. Dort wird den Gläubigen kein traditionalistischer christlicher Einheitsbrei, sondern Gott à la carte geboten. David Roozen, Leiter des Instituts für Religionsforschung in Hartford (Connecticut) hat herausgefunden, dass die Kirchgänger in den USA heute mehr erwarten als die gängige Liturgie. "Sie wollen einen klaren Zweck für ihren Kirchgang sehen und erwarten, dass ihnen eine emotionale Intimität mit Gott angeboten wird, eine Predigt auf einer viel persönlicheren Ebene." Die Bibel ist fester Bestandteil des "everyday life". So lesen 57 Prozent der über 60-jährigen Amerikaner täglich im Buch der Bücher, bei den 18- bis 49-Jährigen sind es noch 23 Prozent. "Das kirchliche Engagement wird in den USA viel positiver bewertet als in Deutschland", erzählt Wolf-Barnett. Nicht umsonst gibt es in den Vereinigten Staaten ganze Landstriche, wo an allererster Stelle das Wort Gottes gilt, wie etwa im berühmten "bible belt" (Bibelgürtel), der sich von den Südstaaten wie Tennessee, Alabama und Mississippi bis weit in den Mittelwesten der Great Plains erstreckt. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die so genannte "Religiöse Rechte", eine große Vereinigung konservativer religiöser Gruppen, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen entscheiden kann. "Die Entwicklung in den USA befremdet uns Europäer wohl deswegen, weil sich die Gewichte der bekundeten Religiosität nach rechts verschoben haben", erläutert Rainer Prätorius, Professor an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und Autor des gerade erschienenen Amerika-Buches "In God We Trust". In den 50er-, 60er-Jahren habe es religiöse Überzeugungen immer beiderseits einer Meinungsverschiedenheit gegeben, sagt Prätorius, etwa bei der Rassentrennung oder dem Vietnamkrieg. "Heute sind diejenigen, die religiöse Überzeugungen in die Politik einbringen, überwiegend Konservative. Vor allem die Evangelikalen, die sich früher nur in ihren Heimatdörfern betätigt haben, drängen seit 20 Jahren sehr massiv in die Politik und üben starken Einfluss auf die Republikanische Partei aus." Der Hamburger Wissenschaftler beurteilt die Evangelikalen inzwischen gar als "politisches Gravitationszentrum", gibt aber zu bedenken: "Es ist nicht die Religion an sich, die die Europäer abschreckt, sondern die Tatsache, dass die Religion momentan so stark konservativ gefärbt daherkommt. Doch das kann sich sehr schnell wieder ändern." Die enorme Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben der USA könne man nur im historischen Kontext verstehen, sagt Rainer Prätorius. "Man muss wissen, dass die USA eine Nation sind, die von religiösen Abweichlern und Flüchtlingen unter dem Gedanken der Religionsfreiheit gegründet wurden. In Europa hatte sich Religion unglaubwürdig gemacht, da sie mit autoritären Regimen paktierte. Anders als auf dem Alten Kontinent entfiel in der Neuen Welt dieses Motiv für eine Säkularisierung völlig. In den USA hat die organisierte Religion nie diesen Glaubwürdigkeitsverlust erlebt." Die USA, gegründet von Leuten mit starken Glaubensgrundsätzen, hätten sich immer als Refugium für Gläubige empfunden - als neues Jerusalem, wo es noch am ehesten möglich ist, ein gottgerechtes Leben zu führen. Das führe Gläubige oft zu dem Trugschluss, dass Amerika auch die gottgerechte Nation ist und eine besondere Rolle in Gottes Heilsplan spielt. "Dies kann dann Ignoranz gegenüber anderen Kulturen zur Folge haben." Die Religiosität Amerikas sei jedoch eine völlig andere als in Europa, weil sie auf das Individuum zugeschnitten sei. "In den USA wird Religion immer als persönliche, freie Entscheidung empfunden und nicht wie bei uns als Gemeinschaft, in die man ohne eigenes Zutun hineingeboren wird", erklärt Prätorius. "Deshalb gibt es in den USA auch so viele Religionsgemeinschaften, die großen Wert auf das Prinzip der Erwachsenentaufe legen." Angesichts der kritischen Betrachtung der amerikanischen Religiosität hierzulande unterstreicht der Professor, dass "die Gesellschaft Amerikas, das ja bis heute Einwanderungsland ist, eine enorme historische Integrationsleistung vollbracht hat. Es sind sehr viele Religionen eingewandert, für die Amerika ein Refugium war. Die Religion half den Menschen, sich in einer fremden Welt zurechtzufinden. Und das hat stark zu ihrer Bedeutung in der Gesellschaft beigetragen."