Tausende minderjährige Flüchtlinge leben in Deutschland - ganz ohne Familie. Viele waren jahrelang unterwegs und haben Schreckliches erlebt.

Frankfurt/Main. Der 16-jährige Afghane fiel der Bundespolizei am Frankfurter Hauptbahnhof gleich auf. Völlig allein stand er dort Ende vergangener Woche herum. „In der Wache gab der Jugendliche an, über Italien und Frankreich nach Deutschland eingereist zu sein“, heißt es im Polizeibericht. „Er wurde dem Jugendamt übergeben.“ Schätzungen zufolge kommen ungefähr 2000 bis 3000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge jedes Jahr nach Deutschland. „Vielleicht auch mehr“, sagt Goran Ekmescic vom zuständigen Bundesfachverband in München. „Die meisten kommen aus Afghanistan.“

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Vereinzelt hätten Jugendliche das Glück, ein Ticket kaufen zu können, von Teheran oder Bagdad nach Frankfurt zu fliegen und erst am Flughafen aufzufallen, sagt Ekmescic. „Der Großteil kommt aber über den Landweg.“ Manche seien zwei bis drei Jahre unterwegs. Das Gros erreiche Europa über Griechenland, sei dort auf unbestimmte Zeit in gefängnisähnlichen Einrichtungen untergebracht und werde irgendwann auf die Straße entlassen. Von dort versuchten sie ihr Glück in Richtung Nordeuropa. „Die meisten haben irgendwelche Kontakte.“ Manche enge Verwandte, viele aber nur entfernte Bekannte, zu denen sie nicht einfach reisen dürfen.

Das Frankfurter Jugendamt hat 59 vollstationäre Plätze für die Flüchtlinge. „Die Plätze sind sehr ausgebucht – mit wachsender Tendenz“, sagt die Leiterin der zuständigen Clearingstelle, Karin Voßmann. Die meisten Flüchtlinge kamen allein nach Deutschland und waren mindestens 15 Jahre alt. Nach spätestens einem halben Jahr kommen sie aus der Erstaufnahme in eine andere betreute Jugend-Einrichtung in Hessen.

Wie in Hessen bringen viele Bundesländer die Minderjährigen inzwischen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe unter, berichtet Ekmescic. „Sie werden nicht mehr in erster Linie als Flüchtlinge behandelt, sondern als das, was sie sind: als Kinder und Jugendliche.“ Allerdings gelte dies noch nicht überall. So würden vor allem in Bayern, aber auch in Niedersachsen insbesondere 16- und 17-Jährige noch längst nicht immer in Obhut genommen und Betreuern unterstellt. Stattdessen würden sie mit erwachsenen Flüchtlingen und Familien gemeinsam untergebracht.

Die Bundesregierung müsse dringend Klarheit schaffen, dass auch bei dieser Altersgruppe die Betreuung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz Vorrang vor dem Asylrecht habe, verlangt Ekmescic. „Dann können sich die Bundesländer nicht mehr aus der Verantwortung stehlen.“ Sozialministerien und Jugendämter müssten zudem mancherorts geeignetere Unterbringungs- und Versorgungsformen für die Jugendlichen finden.

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Was wird dann aus den jungen Flüchtlingen? „Die meisten stellen einen Antrag auf Asyl, der aber wenig erfolgversprechend ist“, berichtet Ekmescic. Mehr als 80 Prozent bekämen höchstens eine befristete Duldung. Wer jünger als 16 Jahre sei, werde meist auf eine Hauptschule geschickt, manchmal mit speziellem Förderunterricht. Und die Älteren? „Das ist ein Wettlauf mit der Zeit“, sagt der Fachmann. „Die meisten versuchen so schnell wie möglich einen Schulabschluss hinzukriegen, hoffen dann, eine Ausbildung anfangen zu können und so in den festen Aufenthalt zu rutschen, bevor der Abschiebebescheid kommt.“

Viele der Kinder und Jugendlichen wurden in ihrer Heimat und auf der Flucht misshandelt und traumatisiert. „Was Jugendliche aber auch erwachsene Flüchtlinge heute erlebt haben, ist sehr, sehr schlimm“, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl. Die Risiken auf der Flucht seien inzwischen enorm groß. Ekmescic sagt: „Traumatisiert sind die meisten. Es ist nur eine Frage, welcher Grad der Traumatisierung vorliegt, und ob das als Grund herangezogen werden kann, eine Abschiebung zu verhindern.“ Dies hätten die Behörden erkannt und es würden immer mehr Gutachten in Auftrag gegeben und Therapien übernommen.

Schätzungsweise 8000 bis 10.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben dem Fachverband zufolge in Deutschland. Künftig rechnen die Experten weiterhin mit Flüchtlingen aus Afghanistan, aber auch mit mehr Kurden aus dem Irak – und mit Syrern.