Mamoudou, 16, floh aus der Militärdiktatur nach Hamburg, fand liebevolle Pflegeeltern. Trotzdem droht dem Jugendlichen die Abschiebung.

Hamburg. Zwei Tage nach Ostern 2011 hat Mamoudou zum ersten Mal "Papa" zu Ernest Buck gesagt. "Papa, gib mir bitte mal den Tee." Ein belangloser Satz, aber für Ernest Buck, seine Frau Petra und Mamoudou bedeutete er viel. Sie waren eine Familie geworden - das Flüchtlingskind aus Guinea und das Unternehmer-Ehepaar aus Hamburg.

Mamoudous leiblicher Vater war gestorben, als er sechs war, seine leibliche Mutter wurde am 28. September 2009 getötet, bei einem Massaker in Conakry, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes Guinea. Mamoudou überlebte das Massaker schwer verletzt.

Zweieinhalb Jahre später lebt Mamoudou in einem großen Einfamilienhaus in den Walddörfern. Er spielt Fußball in einer Jugendmannschaft. Er ist so gut, dass der HSV auf ihn aufmerksam wurde. Er ist angekommen in Hamburg. Trotzdem droht ihm die Abschiebung: Die Ausländerbehörde hat seinen Asylantrag abgelehnt und ihm lediglich eine "Aufenthaltsgestattung" erteilt. Die läuft in diesem Monat aus.

Mamoudous Hamburger Vater, Ernest Buck, hatte im Herbst beim Abendblatt angerufen. Damals berichtete das Abendblatt über die Führungsakademie der Bundeswehr und darüber, dass auf Kosten deutscher Steuerzahler Soldaten aus Militärdiktaturen in Hamburg ausgebildet werden - auch aus Guinea. Mamoudou hat die Berichte über sein Land gesehen. So war alles wieder hochgekommen.

+++ Das ist Guinea +++

Er ist ein schmächtiger Junge. Seine Stimme ist leise, im Haus der Bucks trägt er häufig T-Shirt und kurze Hose. Sie haben ihm ein Jugendzimmer eingerichtet: ein Bett, ein Schreibtisch, ein großer Fernseher, zwei Sessel, ein Tisch. Aus dem Fenster schaut Mamoudou in den Wald, manchmal kann er Rehe beobachten. Es ist sehr ruhig. Mittlerweile kann er nachts durchschlafen.

"Sie haben angefangen zu schießen. Pam, pam, pam", sagt Mamoudou. Der 28. September 2009 war ein Montag. Im Stadion von Conakry sollte eine Demonstration gegen den damals regierenden Diktator Moussa Dadis Camara stattfinden. Mamoudous Mutter fragte ihn, ob er mitkommen wolle. Sie war regierungskritisch.

Die Mutter verdiente ihr Geld, indem sie Kinderkleidung auf dem Markt verkaufte. Vier Jahre konnte Mamoudou zur Schule gehen, lesen und schreiben lernen, dann musste auch er auf dem Markt arbeiten. Er trug den Kunden ihre Waren nach Hause. Wenn er um 17 Uhr heim kam, spielte er mit seinen Freunden Fußball. Ihr Fußballplatz war die Straße, Fußballschuhe hatten sie nicht, sie spielten barfuß.

Eine Stunde dauerte der Fußweg an jenem 28. September 2009 zur Demonstration. Vor dem Stadion von Conakry standen Polizisten. "Geht dort nicht rein", sagten sie, aber Mamoudou und seine Mutter gingen trotzdem. Mamoudou erzählt von der friedlichen Stimmung im Stadion, den Ansprachen der Oppositionspolitiker, den Plakaten, den Sprechchören. "Wir wollen keine Militärdiktatur!", hätten die Menschen gerufen. Und dann kamen die Soldaten.

Es gibt einen Uno-Bericht. Darin steht, dass Elitetruppen des Diktators Camara auf Menschen schossen, sie mit Stichwaffen attackierten. Frauen und Männer wurden vergewaltigt, teilweise mehrfach. 156 Menschen wurden laut dem Bericht getötet. Mamoudou und seine Mutter flüchteten in eine Umkleidekabine. Doch plötzlich wummerte es an die Tür. Rauskommen! "Bleib hier drinnen", warnte seine Mutter, es waren ihre letzten Worte.

"Was machst du hier?" Mamoudou hörte, wie ein Soldat seine Mutter anbrüllte. Dann hörte er sie stöhnen. Mamoudou rannte aus seinem Versteck. Auf dem Boden lag seine Mutter. Der Soldat hatte eine blutige Machete in der Hand. Mamoudou erinnert sich, dass der Soldat ihn sah und mit seiner Waffe ausholte. "Dann bin ich eingeschlafen", sagt Mamoudou leise. Das deutsche Wort "Ohnmacht" kennt er noch nicht.

Mamoudou wachte damals auf der Ladefläche eines Lasters auf. Überall war Blut. Viele verwundete Menschen waren da, einige hatten Löcher im Bauch, erinnert sich Mamoudou. Er selbst hatte schwere Verletzungen am rechten Fuß. An das Krankenhaus, in das man ihn brachte, erinnert er sich kaum noch. Er weiß nur, dass er dort nicht sicher war. Immer wieder kamen Soldaten in die Klinik, die verletzte Oppositionelle suchten.

Ein Freund der Familie fand Mamoudou im Krankenhaus und holte ihn raus. In einer Privatklinik wurde Mamoudous Fuß behandelt. Der Soldat hatte seinen großen Zeh abgeschlagen. Der Freund nahm ihn danach bei sich auf. Doch das war nur eine Zwischenlösung; Mamoudou war als Zeuge des Massakers in Guinea in Gefahr. Und so stellte der Freund Kontakt zu einer Familie her, die ein Visum für eine Reise nach Frankreich hatte. Ein Sohn der Familie hatte Ähnlichkeit mit Mamoudou.

Der Freund schärfte Mamoudou ein, keine persönlichen Dinge mit nach Frankreich zu nehmen. Die Familie konnte ihn nur bis Paris begleiten. Der Freund aus Guinea hatte für den Weitertransport gesorgt. Ein Auto, sechs Menschen darin, viele Stunden Fahrt. Am Ende der Reise wurde Mamoudou am Hamburger Hauptbahnhof abgesetzt. Es war der 4. Juni 2010. Mamoudou hatte zehn Euro bei sich. Er hatte eine Jeans und drei T-Shirts. Und Tuberkulose - er litt unter schwerem Husten, hatte Fieber, bekam keine Luft. Er wusste nicht, wo er war. Deutschland kannte er nicht.

Er schlief im Hauptbahnhof. Am nächsten Tag sprach er einen Polizisten an. Sein erster Kontakt mit einem deutschen Beamten. Mamoudou kam in eine Jugendwohnung für minderjährige Flüchtlinge. Er fühlte sich dort nicht wohl. Das Massaker hatte ihn schwer traumatisiert. Er wechselte mehrfach die Jugendwohnung. Doch es wurde nicht besser. "Es war wie im Gefängnis", sagt Mamoudou heute. Er hielt sich von den anderen Jugendlichen fern. Er suchte Hilfe und fand sie bei einer Mitarbeiterin der Diakonie.

Es war die Zeit, in der auch Ernest Buck, 55, und seine Frau Petra, 50, die Diakonie kontaktierten. Ernest Buck hat in seinem Leben schon viel mitgemacht. Als junger Mann war er Eishockeyprofi, nach einem Sportunfall unterlief seinem Arzt ein Behandlungsfehler, als Folge musste Buck ein Bein amputiert werden. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Buck ist schwer zuckerkrank und hat eine komplizierte Knochenkrankheit. Aber er ist ein Kämpfer. Er ist ein erfolgreicher Unternehmer, die Unternehmensgruppe führt er gemeinsam mit seiner Frau Petra. Er selbst hat keine Kinder, seine Frau hat Kinder aus erster Ehe. Den Bucks geht es finanziell gut, sie konnten sich damals vorstellen, einem Flüchtlingskind zu helfen. So suchten sie Kontakt zur Diakonie.

Ein erstes Kennenlernen gab es im Dezember 2010, Mamoudou traf die Bucks in einem Café, eine Betreuerin von der Diakonie war dabei. Er mochte die beiden, die Bucks mochten ihn. "Ich spiele Fußball", sagte Mamoudou. Er konnte noch kaum Deutsch. Einige Tage später kam er zu Besuch zu den Bucks. Als er zurückmusste in seine Jugendwohnung, hatte er Tränen in den Augen.

Am 9. Januar 2011 zog er bei den Bucks ein. Das Jugendamt hatte zugestimmt. Seit diesem Tag bezeichnen die Bucks Mamoudou als ihren "Sohn". "Ich würde mein ganzes Unternehmen verkaufen, nur damit es Mamoudou gut geht." Ernest Buck sitzt in seinem Wohnzimmer, Mamoudou ist in seinem Zimmer und lernt. "Wenn wir essen gehen, dann sehen wir seinen Hunger", sagt Buck. "Wenn er ein Steak isst, dann bestellt er danach noch eins, weil er so viel versäumt hat." Mamoudou lerne wie ein Besessener, als ob er es sich erarbeiten müsste, in Deutschland zu bleiben, bei den Bucks.

Er hat viele Dinge zum ersten Mal in seinem Leben getan, seit er in Hamburg ist. Er ging im Schnee spazieren. Der gläubige Moslem besuchte einen Weihnachtsgottesdienst und sang mit seinen Hamburger Eltern Weihnachtslieder. Er lernte Facebook kennen. Er war im Heidepark Soltau. Es gibt ein Foto von ihm und einem deutschen Freund, das die beiden in der Achterbahn zeigt. Der Freund lacht entspannt. Mamoudou wirkt erschrocken.

Ernest und Petra Buck möchten Mamoudou gerne adoptieren. Zwölf Monate lang hat die Patchworkfamilie die sogenannte "Beobachtungsphase" absolviert, die in diesem Monat ausläuft. Danach soll das Familiengericht über die Adoption entscheiden. Wenn die Bucks Mamoudou adoptieren, bekommt er den deutschen Pass und den Namen Buck.

Die Ausländerbehörde will Mamoudou abschieben. "Es drängt sich hier der Eindruck auf, dass diese Ereignisse, die in Guinea allgemein bekannt waren und denen unter der Bevölkerung und in den Medien breiter Raum gewidmet wurden, zum Anlass genommen wurden, ein erfundenes persönliches Schicksal in tatsächlich stattgefundene Vorkommnisse einzuflechten, um so dem Sachvortrag den Anschein der Authentizität zu geben", heißt es in der Begründung der Behörde. Die Bucks klagten gegen die Entscheidung, sie berufen sich auf die schwere Traumatisierung ihres Sohnes. Einen Tag vor seiner Abschiebung kam die Aufenthaltsgestattung, die jetzt wieder ausläuft. Dann muss er wieder in die Ausländerbehörde. Als geduldeter Flüchtling kann er jederzeit abgeschoben werden. Als Mamoudou zu den Bucks kam, konnte er häufig nachts nicht schlafen. Wegen der Albträume. Ernest und Petra Buck wachten von seinen Schreien auf. Als das Fernsehen Bilder des Arabischen Frühlings zeigte, malte er ein Bild. Es war ein Bild, wie es Kinder malen. Darauf zu sehen war ein Leichenwagen mit einer Frau darin, davor ein Soldat mit einer Machete. Auf dem Bild war auch ein schreiender Junge zu sehen. Einmal in der Woche geht Mamoudou zu einer Psychologin. Mamoudou hält sich auch von der afrikanischen Gemeinschaft in Hamburg fern. Kontakte in die Heimat hat er kaum noch. Es ist, als ob Mamoudou fertig wäre mit Afrika.

Er wollte auch in Deutschland Fußball spielen, trotz der Sache mit seinem Fuß. Die Bucks stellten Kontakt zu einem Verein in der Nachbarschaft her. Mamoudou bekam Spezial-Fußballschuhe. Er schießt jetzt nicht mehr mit rechts aufs Tor, sondern mit links. Einschränkungen hat er durch seine Verwundung nicht, Schmerzen mittlerweile auch nicht mehr.

Mamoudou schoss in acht Spielen 19 Tore, seine Mannschaft wurde Bezirksligameister, jeder Spieler bekam eine Medaille. Sie hängt in seinem Zimmer, an einem schwarz-rot-goldenen Band. Vor den Spielen zieht sich Mamoudou hierher zurück, hört afrikanische Musik, tanzt. Seine Art der Motivation. Die Bucks begleiten Mamoudou häufig zu seinen Fußballspielen. Dann sitzt Ernest Buck im Rollstuhl am Spielfeldrand, auch bei Minusgraden. Er richtet seinen Terminkalender nach seinem Sohn aus.

Mamoudou ist schnell, spielt so gut, dass sogar der HSV ihn zum Probetraining einlud. Für die Mannschaft der unter 16-Jährigen ist er ein halbes Jahr zu alt, für die Mannschaft der unter 17-Jährigen fehlt ihm die nötige Taktik - er stürmt super, sagte der Trainer, aber verteidigen könne er nicht. Jetzt suchen er und seine Pflegeeltern nach einem anderen Verein im Leistungsfußball.

Auf Mamoudous Schreibtisch liegen Wörterbücher. Er hat schnell Deutsch gelernt. Er besucht eine Gesamtschule in der Nähe seines Elternhauses, seine Noten sind gut. Er hat eine Empfehlung für die Realschule. In sein Zeugnis schrieb die Klassenlehrerin: "Lieber Mamoudou, schnell hast Du Dich in unsere Klassengemeinschaft integriert und bist in dieser kurzen Zeit ein anerkanntes Mitglied geworden. Das liegt unter anderem auch daran, dass Du sehr hilfsbereit bist und offen auf Deine Klassenkameraden zugehst. Prima!" Im März macht er ein Praktikum bei einem Elektriker. Was er einmal werden will, weiß er noch nicht. Aber Technik interessiert ihn.

Mamoudou sagt, dass er nicht verstehen könne, warum die Sache mit der Adoption so lange dauert. Er möchte doch so gerne Buck heißen. Neulich hat er seinen Hamburger Eltern zwei Tassen geschenkt. Auf der einen steht: "Ohne Mama ist alles doof." Auf der anderen: "Ohne Papa ist alles doof."