Das Öko-Institut warnt in einer Studie vor einem Strom-Schock. Industrie und Gewerkschaft gehen Kanzlerin Angela Merkel scharf an.

Hamburg. Die Pläne der schwarz-gelben Bundesregierung zum Atomausstieg stoßen zunehmend auf Widerstand. SPD und Grüne äußerten deutliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Vorhabens. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck sagte der „Stuttgarter Zeitung“, die SPD-geführten Länder befürchteten angesichts der Debatten über Kaltreserven, Sicherheitspuffer und Überprüfungsklauseln, „dass hier heimlich eine Art Revisionsklausel eingebaut wurde“. Heftige Kritik kam auch aus der Wirtschaft. Bis spätestens 2022 sollen dem Beschluss der Koalition zufolge alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Die sieben ältesten Atommeiler und den Reaktor Krümmel werden überhaupt nicht mehr ans Netz genommen. Allerdings soll einer dieser Altmeiler bis 2013 als sogenannte Kaltreserve bereitgehalten werden, um eventuelle Engpässe zu überbrücken und Stromausfälle zu verhindern.

Einen parteiübergreifenden Konsens hält Beck unter diesen Bedingungen für unwahrscheinlich: „Ich will jetzt noch nicht Nein sagen. Aber ich bin sehr skeptisch, ob wir das mittragen können.“ Das Ende des Ausstiegs müsse ganz genau feststehen, sonst entstünden wieder Zweifel und Unsicherheiten, die einen schnellen Umstieg auf erneuerbare Energien mit entsprechenden Investitionen bremsten. Daher sei ein verbindlicher Ausstiegszeitplan für jeden einzelnen Meiler notwendig. „Die Trickserei mit den Laufzeiten, die wir in der Vergangenheit erlebt haben, muss ein Ende haben.“

Der Atomausstieg enthält nach einer Berechnung des Öko-Instituts viele Fallstricke. Wegen der weiterhin möglichen Übertragung von Reststrommengen von stillgelegten auf noch laufende Meiler werde die Betriebszeit letztlich um knapp 60 Prozent über den im rot-grünen Ausstieg vereinbarten Restlaufzeiten liegen. „Im Ergebnis müssten in 2020/2021 innerhalb von nur zwölf Monaten fast alle länger betriebenen Anlagen – mit einer Leistung von 10.800 MW – vom Netz gehen“, heißt es in der Studie, die der Deutschen Presse-Agentur dpa vorliegt.

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E.on will gegen die Brennelementesteuer klagen

„Dies würde mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche energiewirtschaftliche und netztechnische Probleme mit sich bringen und das endgültige Ausstiegsdatum 2021 gefährden“, heißt es in der Studie. Der Grund liegt in der Übertragung von Strommengen, die noch produziert werden dürfen, von den acht abgeschalteten Anlagen auf die neun verbleibenden AKW. Diese Strommengen werden dann bei den neun Atommeilern wie eine Bugwelle vor sich hergeschoben.

Die Grünen fordern, dass auf die Reststrommengen-Übertragung von abgeschalteten auf noch laufende Meiler verzichtet wird. Im Atomgesetz von Rot-Grün war 2002 – basierend auf der Konsens-Vereinbarung mit den Konzernen von 2001 – festgelegt worden, dass die Meiler Stück für Stück und nicht geballt zum Ende vom Netz gehen, um Gefahren für Netz und die Versorgung zu minimieren.

Zudem birgt die ganze Konstruktion hohe rechtliche Risiken. Denn die Konzerne könnten dagegen klagen, wenn sechs Meiler bis 2021 und drei bis Ende 2022 abgeschaltet werden und eventuell diese noch über zu produzierende Strommengen verfügen.

Das novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wird von den Sozialdemokraten ebenfalls abgelehnt. SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber sagte der „taz“: „Die ganze Linie dieses EEG ist es, zentralistische Großprojekte zu fördern und alles Dezentrale kaputt zu machen. Da wird es kaum eine Einigung geben.“

Auch in der Wirtschaft mehren sich die Gegenstimmen. RWE-Vorstandschef Jürgen Großmann kritisierte in der „Bild“-Zeitung: „Die Frage nach der Berechenbarkeit muss man bei dieser Bundesregierung nicht nur in Energiethemen stellen. Andere Länder beweisen, dass man dieses Thema ruhiger und sachlicher behandeln kann.“ Ob RWE wie der Energieriese E.on gegen die Brennelementesteuer klagt, blieb aber zunächst offen. „Wir haben immer gesagt, dass wir uns alle rechtlichen Optionen offen halten. Es spricht vieles für und wenig gegen eine Klage“, sagte Großmann. Die Energiekonzerne kritisieren, dass die Brennelementesteuer trotz Rücknahme der Laufzeitverlängerung beibehalten wird.

Kritik übte Großmann auch am Vorgehen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): „Würde der DFB über die Zukunft des deutschen Fußballs entscheiden, ohne die Champions-League-Vereine mit einzubinden?“ fragte er. „Offenbar will man in Deutschland eine Energiezukunft ohne die international agierenden Energiekonzerne.“

Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie, Michael Vassiliadis, monierte im „Handelsblatt“: „Die Bundesregierung muss ein Interesse daran haben, die Belange der Industrie zu berücksichtigen.“ Industrieunternehmen seien „die maßgeblichen Problemlöser für die Energiewende“, sagte er. Die Industrie brauche „eine langfristige und verlässliche Kompensation der Mehrkosten, die durch die Energiewende verursacht werden“. (dapd/dpa)