Vizepräsident Omar Suleiman versucht, die Lage zu entschärfen. Einen vorzeitigen Rücktritt von Präsident Husni Mubarak schließt er jedoch aus.

Kairo/Berlin/Hamburg. Nach neun Tagen massiver Proteste gegen das ägyptische Regime hat Vizepräsident Omar Suleiman mit einem umfassenden Verhandlungsangebot versucht, die Lage zu entschärfen. Zugleich schloss er einen Rücktritt von Präsident Husni Mubarak vor Ablauf seiner Amtszeit in diesem September kategorisch aus. „Die Forderung nach Rücktritt des Präsidenten ist ein Aufruf zum Chaos“, erklärte er am Donnerstag in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehen in Kairo. „Es gibt keinen Staat ohne Kopf.“ Erstmals lud Suleiman die verbotene islamistische Muslimbruderschaft zu Gesprächen ein. „Ich habe sie kontaktiert, ich habe sie eingeladen, aber sie zögerten noch, in einen Dialog einzutreten“, sagte er. „Es ist in ihrem Interesse, in diesen Dialog einzutreten, sie würden sonst eine große Gelegenheit versäumen“, fügte er hinzu. Wenige Stunden zuvor hatte sich der Vizepräsident mit Vertretern mehrerer kleinerer Oppositionsgruppen getroffen. Die Muslimbruderschaft gilt als die größte Oppositionsbewegung in Ägypten. An den Protesten gegen das Regime auf dem Tahrir-Platz nehmen ihre Mitglieder teil, als Organisation zeigt sie aber dort nicht Flagge. Vertreter der Muslimbruderschaft hatten zuletzt erklärt, mit Suleiman erst reden zu wollen, wenn Mubarak zurückgetreten ist. Auch andere Oppositionskräfte verfolgen diese Linie, darunter die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz, der Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei und der ehemalige liberale Präsidentschaftskandidat Eiman Nur. Einen Rücktritt Mubaraks schloss Suleiman jedoch kategorisch aus. Stattdessen drängte er die Opposition zur Vorbereitung der Wahl eines Nachfolgers von Husni Mubarak im August oder September. Der Staatschef hatte am Dienstag angekündigt, er werde bei dieser Wahl nicht mehr antreten. „Die Zeit drängt“, sagte Suleiman in dem Fernseh-Interview. „Wir brauchen 70 Tage allein um die Verfassung zu modifizieren.“ Er erwähnte jene Verfassungsartikel, die derzeit eine freie Präsidentenwahl unmöglich machen. Die von der Opposition verlangte Auflösung des Parlaments lehnte er ab. Die Volksvertretung werde benötigt, um die Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen. Hinter den Protesten steckten womöglich auch „äußere Kräfte“, sagte er weiter. Die Hintergründe der Angriffe auf friedliche Demonstranten müssten aufgeklärt werden. In diesem Zusammenhang sprach er von – nicht näher definierten – „Infiltratoren“, die die Demonstrationen unterwandert hätten.

Tote bei Straßenschlachten

Die Zahl der Toten aus der Nacht ist noch nicht klar – da wird in Kairo schon wieder geschossen. Vom Tahrir-Platz aus waren am Donnerstag Schüsse zu hören. Wie AFP-Journalisten berichteten, setzten die Schüsse gegen 14.30 Uhr Ortszeit (13.30 Uhr MEZ) auf der Brücke des 6. Oktobers ein, die über den Platz Abdelmoneim Riad führt. Die neuen Zusammenstöße zwischen Regimegegnern und Pro-Mubarak-Demonstranten haben die Angst vor einer weiteren Eskalation der Gewalt in Ägypten verstärkt. Die Armee stellte sich zwischenzeitlich mitten in die Menschenmenge und zerrte Demonstranten auseinander.

Einige Demonstranten hatten in der Nacht Anhänger von Staatschef Husni Mubarak gefangengenommen und sie den Soldaten übergeben. „Das Volk will die Hinrichtung des Schlächters“, skandieren einige an die Adresse von Mubarak. Ärzte berichteten von Toten und zahlreichen Verletzten. „Wir haben mehr als tausend Verletzte behandelt“, sagt der sichtlich erschöpfte Amr Bahaa. Er behandelt die Opfer in einer zur Krankenstation umfunktionierten Moschee in der Nähe des Tahrir-Platzes.

Der neue ägyptische Regierungschef Ahmed Schafik hat eine Bestrafung der Verantwortlichen f ür die nächtlichen Angriffe auf Regimegegner angekündigt . In einer vom ägyptischen Fernsehen übertragenen Rede kündigte er eine genaue Untersuchung der Angriffe auf dem Tahrir-Platz an. Seine Regierung werde nun den Dialog mit den Demonstranten suchen. „Ich verspreche, die Ergebnisse werden offengelegt.“ Die Angreifer hätten auf dem Platz gezielt Gewalt angewendet. Ihr Ziel sei es gewesen, Öl ins Feuer zu gießen. „Es ist nicht akzeptabel, dass Bruder gegen Bruder kämpft“, sagte Schafik.

Vodafone protestierte gegen Pflicht zur Propaganda

Unterdessen wurde bekannt, dass der Mobilfunkbetreiber Vodafone in Ägypten SMS-Kurzmitteilungen mit staatlicher Propaganda verbreitet hat. Das Unternehmen teilte in London mit, es sei ebenso wie die Mobilfunkanbieter Mobinil und Etisalat von den Behörden angewiesen worden, seit Beginn der Proteste „Mitteilungen an das ägyptische Volk zu verschicken“. Die Behörden hätten sich dabei auf die Notstandsbefugnisse des Telekommunikationsgesetzes berufen. Vodafone folgte der Anweisung, protestierte aber nach eigenen Angaben bei den Behörden gegen diese als inakzeptabel bezeichnete Situation. „Wir haben deutlich gemacht, dass all diese Mitteilungen transparent sein sollten und eindeutige Urheberangaben enthalten sollten“, hieß es in einer Pressemitteilung des britischen Konzerns.

In Blogs sowie im Internet-Foto-Portal Flickr wurden Aufnahmen mit Darstellungen der SMS-Mitteilungen veröffentlicht. Diese richten sich demnach unter anderem an die „Jugend Ägyptens“ mit der Aufforderung: „Hütet euch vor Gerüchten und hört die Stimme der Vernunft“. Eine andere SMS richtet sich an „jede Mutter, jeden Vater, jede Schwester, jeden Bruder, an jeden ehrlichen Bürger, bewahrt dieses Land, da die Nation ewig ist“. Eine weitere SMS gibt sich als Botschaft der Streitkräfte aus und fordert „Ägyptens ehrliche und loyale Männer auf, sich den Verrätern und Kriminellen entgegenzustellen und unser Volk und unsere Ehre und unser kostbares Ägypten zu beschützen“.

Mubarak soll Milliarden in die Schweiz gebracht haben

Offiziell hat sich die Schweiz noch nicht geäußert, ob Ägyptens Staatschef Mubarak oder seine Umgebung Geld in der Schweiz auf Konten hinterlegt haben. Dies sei erst nach einem Beschluss der Regierung möglich, diese Konten zu blockieren, wie es kürzlich im Falle Tunesiens und der Elfenbeinküste geschehen sei, sagte die Sprecherin des Bundesamtes für Polizei, Danièle Bersier. Nach einem Bericht der „Basler Zeitung“ sollen Mubarak und sein Umfeld in den vergangenen 30 Jahren mehr als 40 Milliarden Dollar (heute fast 30 Milliarden Euro) angesammelt haben. Wie viel davon auf Schweizer Banken gelandet sei, sei ungewiss, schreibt die Zeitung. Nach einer Statistik der Schweizerischen Nationalbank befinden sich ägyptische Guthaben in Höhe von 3,6 Milliarden Franken im Land. Wem sie gehören, sagte die Statistik offiziell dagegen nicht.

Experte: Die Europäer haben lange gezögert

Für eine Stabilisierung Ägyptens wird nach Expertenansicht das Militär eine zentrale Rolle spielen. „Sollte das Militär auseinander fallen, was im Moment nicht wahrscheinlich scheint, dann stehen wir vor einer Katastrophe“, sagte der Nahost-Experte Asiem el-Difraoui von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin der Nachrichtenagentur dpa. „Das Militär ist der Schiedsrichter.“ Eine Übergangsregierung mit einem General als Interimspräsidenten sei deshalb denkbar. „Aber es muss ein General sein, den das Volk tolerieren kann.“ Der von Husni Mubarak zum Vizepräsident ernannte Omar Suleiman sei für die Opposition zu sehr der Mann Mubaraks.

Derzeit werde eine zukunftsfähige Exit-Strategie für Ägypten durch die eskalierende Situation immer schwieriger. „Die Europäer haben lange, lange gezögert“, meint el-Difraoui. Ein Lösung wäre, wenn das Militär als Garant der Stabilität eine breit gefächerte Übergangsregierung mit einem beim Volk beliebten Premierminister unterstützen würde. „Die Ägypter hassen Mubarak zwar nicht. Aber sie wollen ihn nicht mehr. Jetzt geht es darum, ihm einen Abgang auf Augenhöhe zu ermöglichen, so dass er das Gesicht nicht verliert“, sagte el-Difraoui.

ZDF-Journalistin nach Haft wieder frei

Eine für die „New York Times“ und das ZDF in Ägypten arbeitende Journalistin ist nach 20 Stunden Haft in Kairo wieder auf freiem Fuß. Das sagte ZDF-Chefredakteur Peter Frey. Die Frau war am Mittwochnachmittag auf der Fahrt von Alexandria nach Kairo festgenommen worden und dann, wie Frey sagte, in einem Hochsicherheitstrakt festgesetzt worden.

Der Chefredakteur von ARD Aktuell, Kai Gniffke, hat Versäumnisse in der Ägypten-Berichterstattung eingeräumt. In den vergangenen 10 bis 20 Jahren sei die Tatsache nicht hinreichend gewürdigt worden, dass in Ägypten Ausnahmerecht herrschte, sagte Gniffke im Deutschlandradio Kultur. In der aktuellen Berichterstattung bei ARD und ZDF könne er jedoch keine großen Lücken erkennen. Gniffke sagte, wenn Ägyptens Präsident Hosni Mubarak in den vergangenen Jahren auf Staatsbesuch in Deutschland gewesen sei oder umgekehrt deutsche Politiker Ägypten bereist hätten, sei das Thema Menschenrechte in den deutschen Medien nicht angesprochen worden. Im Nachhinein finde er, der Reflex, den deutsche Medien sonst bei China oder Iran hätten, hätte ihnen im Falle Ägyptens auch „gut zu Gesicht gestanden“.

Zur aktuellen Berichterstattung sagte Gniffke, die ARD sei kein Nachrichtenprogramm, sondern ein Vollprogramm. Mehrere Zeitungen hatten ARD und ZDF in den vergangenen Tagen vorgeworfen, dass sie zu wenig über die aktuellen Vorgänge in Ägypten berichteten. Die ARD hatte zusätzlich zu ihrer Berichterstattung in den Nachrichtensendungen mehrere „Brennpunkte“ nach der „Tagesschau“ von jeweils 10 bis 15 Minuten zum Thema gesendet. Auch in Talkshows wurden die Unruhen in dem nordafrikanischen Land mehrfach thematisiert. Das ZDF sendete bislang fünf jeweils 12- bis 20-minütige „spezial“-Sendungen zum Volksaufstand im Ägypten. Am 2. Februar berichtete das „auslandsjournal“ zusätzlich in einer monothematischen Sendung 30 Minuten lang über die Ereignisse. (dpa/dapd/AFP/epd)