Wie liest man richtig? Woher kommt die Zeit dafür? Finde ich das Buch - oder findet es mich? Antworten einer Literaturkritikerin

Unser größtes Problem ist doch die Zeit, die man braucht, um die Bücher zu lesen, die wir gern lesen möchten. Da liegen sie und gucken uns vorwurfsvoll an, werden staubig und landen irgendwann an- oder halb gelesen im Bücherregal zwischen anderen ungelesenen Bänden, die auf bessere Zeiten hoffen. Zwischen Klassikergesamtausgaben zum Beispiel. Umberto Eco lässt in einem Buch auf die Frage, ob er denn all die Bücher gelesen habe, die in seinem Bücherschrank stehen, seinen Helden sinngemäß antworten: Nein, dort stehen selbstverständlich nur die nicht gelesenen, die ausgelesenen Bücher brauche ich schließlich nicht mehr. Oder würden Sie leere Konservendosen aufheben?

Der professionelle Leser hat es leichter. Man muss halt lesen, ob man Zeit hat oder nicht. Und weil man muss, tut man es und fühlt sich nicht als sozialer Schmarotzer oder Flüchtling vor anderen wichtigen Tätigkeiten oder der Gemeinschaft. Keine Wäsche, kein Kindertrösten, mit dem Partner plaudern, Freunde treffen, Sport machen. Acht Stunden am Tag: Lektüre. Möglichst irgendwo, wo es keinen Empfang für TV und Radio gibt oder wenn, dann in einer unverständlichen Sprache, kein Theater, kein Kino. Selbst die Tageszeiten, in denen man nicht mehr aktiv lesen kann, sind dann eben den Gedanken und deren Sortieren gewidmet. Oder zwischendurch einfach mal Leerlauf. Und das ist das Glück der Versenkung. Und so liest man alles durcheinander Romane, Reisebeschreibungen und zarte, sinnige Geschichten aus edler Frauenhand.

Bücher, die man bespricht, müssen Wort für Wort und manchmal zweimal gelesen werden. Anders geht es nicht.

Ich denke, Berufsleser legen nur mitunter ein Buch, für das sie nicht der richtige Rezensent sind, schneller aus der Hand. Laien, die das Buch gekauft oder möglicherweise geschenkt bekommen haben, zögern damit länger. Denn bei vielen Bänden fragt man sich doch wirklich besorgt: Wer verlegt das nur alles? Wer druckt das? Wer kauft das? Wer liest es? Dazu gehörten doch auch durchwachte Nächte des Autors, Kopfschmerzen, Entsagung, Fleiß, Anstrengung, tröstende, aufmunternde Geliebte, Lektoren, die das durchgekämpft haben mit der Wörtermachete in der Faust, Werbemittel, Hoffnungen, Tränen. Und dann guckt man als Rezensent kurz rein und weiß buchstäblich nichts damit anzufangen. "Leben heißt Aussortieren" heißt das bei Kurt Tucholsky, der das schlechte Gewissen, das man dabei hat, gut kannte.

Manchmal im Urlaub hat man einen Stapel vermeintlicher "Nieten" dabei, die einem nichts sagen. Aus Verzweiflung nimmt man also doch eines dieser Bücher und gibt ihm eine ausgiebige zweite Chance - und erlebt eben manchmal das Wunder, ein wundervolles Buch zu entdecken, das auf den ersten schnellen Blick seinen Zauber nicht preisgeben mochte. Auch wieder Glück.

Bei den Büchern, die ich privat lesen möchte, geht es mir wie allen Lesern. Ich habe keine Zeit, lasse mich ablenken, finde alles andere wichtiger, und dann liegen sie da auf dem Nachttisch und sehen traurig aus. Wenn aber eines darunter ist, das gerade meine Verzweiflung kennt und mit mir spricht, wenn es mich zum Lachen und Weinen bringt, mich aus der Einsamkeit sich im Kreise drehender Gedanken rettet, dann habe ich Zeit. Wenn es ein Text ist, der mit seiner Klugheit und gekonnten Vermittlungsfähigkeit meinen Gehirnzellen Vergnügen bereitet: Das ist Leseglück.

Eines zeigt sich immer wieder: Die Euphorie am Ende eines Buches, die stellt sich eben nur bei ganz und gar, Satz für Satz gelesenen Büchern ein.