Die Band Scooter und der Künstler Stefan Marx verwandelten die Wohnung von Moderator Marco Antonio Reyes Loredo in ein Ministadion.

Hamburg. "Denkt an die Nachbarn - macht Lärm!", ruft Marco Antonio Reyes Loredo ins Mikro. Nicht nötig. Denn seine Küche in Wilhelmsburg hat sich längst in die Miniaturversion einer Arena verwandelt. Menschen springen, schreien, schwenken Schilder. "Aalarm" steht darauf. Und "Brot Brot Brot". Was Schweiß ist, was Bühnennebel und was Frittierfett, ist längst nicht mehr feststellbar. Reyes Loredo blickt auf das Chaos, Adrenalin glänzt auf seinem Gesicht, er sieht glücklich aus. Zu Recht. Denn er hat dem Fernsehen soeben zurückgegeben, was häufig schmerzlich fehlt: eine wilde Poesie.

Vor einigen Jahren beschloss Reyes Loredo, das TV-Programm gehaltvoller und anarchischer zu gestalten, mit einer Sendung in der eigenen Wohnung. Als moderierender Koch lädt er seitdem Künstler und Musiker ein. Gestartet sind die "Konspirativen Küchenkonzerte" beim Stadtsender Tide, dieses Jahr hat sich ZDF.kultur das Format geholt. Und mit der zweiten Staffel, die gerade gedreht wird, ist die Show keineswegs braver geworden, sondern spannungsgeladener. Zum Beispiel mit der Idee, eine Stadionband auf 70 Quadratmetern auftreten zu lassen und ihr einen Künstler an die Seite zu stellen, der eher für die subkulturelle Nische steht. Scooter, das ist mit mehr als 30 Millionen verkauften Tonträgern ein in Beats gehauener Superlativ. Stefan Marx hingegen gestaltet unter anderem das Artwork für das kleine feine Hamburger Label Smallville, das auf minimalistische Sounds spezialisiert ist.

Zur Glitzerkonfettikanone neben dem Bücherregal drücken Rick und Michael von Scooter Klangwände aus den Synthesizern, während Frontmann H.P. Baxxter seine Dada-Lyrik von "Hyper Hyper" bis "Dödödö" ins Mikro ruft. Der Betonboden vibriert. Die Massenbespaßung, sie funktioniert auch in der guten Stube. Ohne Lkw voller Spezialeffekte. Einige der paar Dutzend Gäste dürfen eigene Slogans ins Megafon schreien. "I like it Kraut", brüllt einer. Immerhin wird nebenbei gekocht, es gibt Currywurst mit Pommes.

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass das Trio, das sich auf der großen Bühne gern von spärlich bekleideten Tänzerinnen flankieren lässt, vor einem "Feminism"-Banner aufspielt. Anregende Unterhaltung entsteht aber nicht nur durch den hohen Ironie-Faktor des Abends, sondern vor allem durch die Gespräche. Zwar ist der optische Kontrast beeindruckend, wenn der blass bebrillte Marx in der Küche neben Baxxter sitzt, dieser fast außerirdisch anmutenden Erscheinung mit seiner Solariumhaut und dem wie eine künstliche Sonne leuchtenden Haar. Doch wenn die beiden über ihre selbst designten T-Shirts sprechen (Baxxter: "Wicked" in Strasssteinen, Marx: "The Dead Sea" im Schwarz-Weiß-Print) und wenn die Themen dann vom kunstaffinen Elektrokollektiv The KLF bis zum Künstler Albert Oehlen reichen, dann löst sich so mancher vermeintliche Unterschied auf wie der Friteusendampf.

Im Laufe der Show fertigt Marx ein Fanzine mit Zeichnungen an, in das Baxxter seine Verse schreibt. "The Ananas doesn't exist." Eine wilde Poesie.

Konspirative Küchenkonzerte Fr 20.1. 2012, ZDF.kultur