Neumeier choreografierte “Preludes CV“ seinen Solisten auf den Leib. Für ausgeschiedene Ensemble-Mitglieder übernimmt die neue Generation.

Hamburg. Anna Laudere reißt unvermittelt den Mund auf und streckt die Zunge heraus. Sind der stets diszipliniert die Form wahrenden Tänzerin jetzt beim Probieren im Fokine-Saal des Ballettzentrums die Nerven gerissen? Verbeißt sie sich mit dem stummen Schrei einen stechenden Schmerz im Spitzenschuh? Oder sollte sie etwa die Knochenarbeit einer Ersten Solistin endgültig satthaben?

Nein, der "Probenunfall" gehört zu ihrem Solo in John Neumeiers Ballett "Preludes CV". Der Choreograf ließ sich zur Szenencollage "ohne Handlung" durch seine Solisten, deren Beziehungen zu ihm und ihre Liebschaften untereinander inspirieren. Möglicherweise hat er in nun 40 Jahren Arbeit nicht nur einen solcher "Ausraster" erlebt. Denn wie kein anderes seiner Ballette bietet die traumartig am Zuschauer vorbeigleitende Galerie der bewegten Porträts zu Lera Auerbachs 24 Preludes für Cello und Violine auch einen Einblick in den "Lebens(ver)lauf" seiner Tänzer. Darum tragen alle 17 Figuren die Vornamen ihrer "Darsteller", die am 22. Juni 2003 die Uraufführung in der Staatsoper tanzten.

Laura Cazzaniga gehörte zu ihnen, arbeitet jedoch seit 2008 als Ballettmeisterin. "Lass doch alles heraus, du bist es, die brüllt", ermutigt sie ihre Kollegin zur Wiederholung des stummen Schreis. Denn Laudere übernimmt die Rolle der "Laura" in der Wiederaufnahme von "Preludes CV" am 8. Januar, für die allerdings nur mehr ein Teil der Originalbesetzung greifbar ist. Joelle Boulogne, Elizabeth Loscavio, Heather Jurgensen, Niurka Moredo, Peter Dingle und Yohan Stegli sind aus der Compagnie ausgeschieden. Nun werden sie von ihren Nachfolgern "verkörpert". Hélène Bouchet und Yuka Oishi tanzen die "Heather"-Charaktere, die "dreifache Elizabeth" in unterschiedlichem Alter Patricia Tichy, Carolina Aguero und Laura Cazzaniga.

"Nimm doch dein Bein und schieb es richtig nach vorn", hilft die Original-Laura ihrem Alter Ego in die richtigen Fußstapfen. Im dritten "allegro"-Anlauf des Préludes Nr. 10 in cis-Moll klappt es. Bei der Drehung nach einer Arabesque hat Laudere aber noch nicht den eleganten Bogen raus. "Nimm mal nicht die Arme nach rückwärts, dann ist es für dich vielleicht einfacher", rät Cazzaniga. "Wir können auch die Dynamik etwas ändern, dann sieht es bei dir noch besser aus. Lieber größer und langsamer die Bewegungen machen als zu klein und zu schnell. Aber vergiss nicht: Du musst schwer auf dem Boden sein." Laudere versucht die Vorschläge umzusetzen, taucht dann erleichtert und folgsam ab in eine tiefe Kniebeuge.

"Ich gebe Anhaltspunkte, wie es in der Choreografie sein sollte", erklärt die Ballettmeisterin. "Ich versuche auch, meine Gefühle und Gedanken zu vermitteln, und beobachte, ob etwas in die richtige oder falsche Richtung geht." Um große Veränderungen gehe es nicht, sondern um stimmige Details.

Eine Kraft fordernde Geduldsarbeit. Tanzen basiert zwar auf Technik, doch bildet sich erst durch Feinschliff und Beseelung eine Figur heraus. Die Lettin Laudere und die blonde Italienerin sind fast gleich groß, doch völlig verschieden in Charakter und Temperament. "Es ist interessant zu sehen, wie eine Person die völlig anders ist als ich, die gleiche Rolle tanzt", sagt Cazzaniga. Sie spricht laut und lebhaft, wirkt eher extrovertiert im Vergleich zur nachdenklichen, zurückhaltenden Laudere.

Wie fühlt es sich denn für sie an, anstatt der Marguerite oder Odette in eine Person zu "schlüpfen", die sie kennt? "Eigentlich ist es nicht so viel anders", meint Anna. "In jeder Rolle findet man etwas von sich, das man ihr geben kann. Ich mache mir erst die Schritte und unterschiedlichen Farben der Bewegungen zu eigen, dann suche ich nach meinen persönlichen Nuancen der Laura." Lachend sieht sie die Ballettmeisterin an, sitzt nun entspannt im Spagat neben ihr, als ob es keine bequemere Dehnposition zum Plaudern gäbe. "Ich hab es einfach gemacht, dann passiert es einfach, whatever you like", antwortet Cazzaniga lässig im Türkensitz. Tänzernaturen scheinen sich auf dem Boden immer am wohlsten zu fühlen. Schenkt er ihnen doch einen festen Halt.

Es geht also nicht um eine Kopie der Rolle. "Wir sind doch kreative Leute", protestiert Laudere. "Auch wenn Laura mir genau erklärt, wie es sein soll, suche ich nach meiner Interpretation." Und Cazzaniga bringt das Besondere dieses Balletts auf den Punkt: "Wir können uns nicht hinter der Maske oder einem historischen Kostüm verstecken. Wir stehen ganz pur, mit wenig Schminke auf der Bühne, geben uns persönlich, aber natürlich nicht privat preis und fühlen uns manchmal fast wie nackt. Das erfordert schon etwas Mut und auch eine intensive Präsenz."

Insofern hat "Preludes CV" einen eigenen Stellenwert unter Neumeiers Werken. In seiner fragmentarischen Struktur, ohne einen leicht erkennbaren "roten Handlungsfaden", ist es nicht nur für die Tänzer, sondern auch für den Zuschauer eine Herausforderung. Aber gerade darin liegt der Reiz und Zauber dieses "Ensemble"-Porträts, in dem Charakterseiten und Eigenarten der Persönlichkeiten für Momente aufblitzen, aber doch nicht wirklich etwas über die Protagonisten verraten. Sie alle vermögen in Neumeiers, für Ballett ungewohnt freier Bewegungssprache - mit Alltagsgesten, wie des tonlosen Lachens, Schreiens oder eben auch mal des Zungeherausstreckens - ihr Geheimnis zu wahren. Wie im Vorübergehen schlagartig Aufmerksamkeit weckende Passanten bleiben sie ein Rätsel.

"Preludes CV" 8.1., 19.30, Staatsoper; weitere Vorstellungen am 9., 11., 12. u. 13.1., jeweils 19.30, Karten unter T. 35 68 68

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