Thalia-Intendant Joachim Lux argumentiert gegen eine Kette von desaströsen Vorstellungen von der Krankenversicherung bis zur Kultur.

Hamburg. Seit das Hamburger Abendblatt über die Sparabsichten berichtete, reißt der Strom des Protests nicht ab. Er richtet sich gegen das Herausschneiden von mehr als zehn Millionen Euro aus dem ohnehin schmalen Kulturbudget. Einige Kulturmacher sehen ihre Arbeit gefährdet, andere - wie die Freundeskreise der Kulturinstitutionen (siehe rechts) - fürchten um die Zukunft der Kultur in Hamburg. Und Thalia-Chef Joachim Lux befürchtet einen kompletten Systemwechsel hin zu einem neoliberalen "Seht doch zu, wie ihr klarkommt."

Die Debatte um den Stellenwert von Kultur ist infam und verlogen ohnegleichen. Und die dankenswerterweise vom Hamburger Abendblatt angestoßene Debatte wird bis jetzt viel zu moderat geführt. Warum?

Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem unentwegt "Schutzschilde" um die Finanzwirtschaft errichtet wurden, die Milliarden gekostet haben. "Schutzschilde", die Versagen und Skrupellosigkeit von Finanzmanagern "abfedern". Das sind die Folgen einer liberalen Deregulierungspolitik. Die Kosten aber werden sozialisiert. Die "Schutzschilde" gegenüber sozialen, kulturellen und gemeinnützigen Dingen werden abgebaut. Nichts gegen "Schutzschilde", so lautet die Devise, aber sie werden leider gerade woanders gebraucht!

Da meldet sich bauernschlau der Bund der Steuerzahler, da meldet sich dieser, da meldet sich jener, wie man Geld sparen könnte, ähm, bei der - ja warum eigentlich nicht - Kultur! Das alte neoliberale Lied: Mehr "Eigenverantwortung" des Bürgers, er soll selber bestimmen (und dann auch bezahlen), was ihm was wert ist, mehr "Demokratie wagen" also. Braucht man Museen? Nicht unbedingt. Braucht man Theater? Nicht unbedingt. Braucht man ein lebendiges Sozialbiotop wie das Gängeviertel? Nein. Wer ins Hallenbad schwimmen gehen will, soll die realen Kosten bezahlen. Wer die Straßenbeleuchtung für wichtig hält, soll sie selbst bezahlen etc.

Wir sind mittendrin in dem, was die "liberale" Partei stolz "Systemwechsel" nennt. Nicht mehr länger sind es die Linken, nein es sind die Wirtschaftsliberalen, die in der Finanzkrise eigentlich ihr Waterloo erlebt haben, jetzt aber frech immer weitermachen mit der Deregulierung.

Das ist aber nicht nur lustig! Hier vollzieht sich tatsächlich das Ende des Systems, das vor über 100 Jahren Reichskanzler Bismarck eingeführt hat. Es hat ziemlich erfolgreich den sozialen Frieden gesichert, indem es Staat und Unternehmer an den Kosten der Sozialsysteme beteiligt hat. Weg damit! Künftig wird jeder seine Krankenkassenbeiträge - ohne Arbeitgeber - eigenverantwortlich selbst gestalten können: mehr Demokratie wagen - na, viel Spaß! Und das ist nur der Anfang: Warum soll diese Idee vor der Rentenversicherung haltmachen? Warum soll sie nicht auf die Arbeitslosenversicherung ausgedehnt werden? Warum soll nicht einfach überhaupt jeder nach seinen Möglichkeiten für sich selbst sorgen?

Die alte Idee, dass der Staat bzw. der Arbeitgeber soziale und kulturelle Verantwortung übernimmt - sie ist eine Konstante, die auch die Väter des Grundgesetzes essenziell meinten. Sie wird kalt lächelnd zur Disposition gestellt, und das Herumnörgeln an ohnehin kleinen Kulturetats ist nur der Testballon für einen weitreichenden Systemwechsel. Politische Revolutionen ereignen sich eben manchmal, ohne dass die Bevölkerung sie merkt ... Das ganze Ethos dieses Staates, das sich bei den ehemals staatstragenden Parteien in den Buchstaben "C" oder "S" symbolisierte, das Unternehmerpersönlichkeiten von Krupp, der Wohnungssiedlungen für seine Unternehmer errichtete, bis Michael Otto ermöglichte, das private Stiftungen zum Gemeinwohl agieren ließ - es ist perdu und zur Disposition gestellt.

Von der Krankenversicherung als Systemwechsel bis zur Debatte um Kulturhaushalte - eine Kette von desaströsen Vorstellungen, gegen die nur eins hilft: Widerstand.