Mit dem 80-jährigen Lyriker Tomas Tranströmer wird erstmals seit 1974 wieder ein Schwede mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet.

Stockholm/Hamburg. Als Peter Englund fast genau um 13 Uhr vor die Presse trat, um den Träger des diesjährigen Literatur-Nobelpreises bekannt zu geben, brandete Jubel auf. Traditionell wird über die höchste literarische Ehrung an der Schwedischen Akademie entschieden, und 2011 ist es ein Schwede, der ausgezeichnet wird: der 80-jährige, nicht unbedingt bekannte, aber geschätzte Lyriker Tomas Tranströmer . Englund, der Ständige Sekretär der Königlichen Schwedischen Akademie, adelte mit der Verkündung des überraschenden Siegers also auf gewisse Weise einen Lokalmatadoren.

Tranströmer wurde 1931 in Stockholm geboren. Er ist der erste schwedische Autor seit 1974 und der achte insgesamt, der den Nobelpreis für Literatur bekommt. Außerdem ist er der erste prämierte Lyriker seit Wislawa Szymborska im Jahr 1996; das Nobelkomitee überraschte wieder einmal die meisten mit seiner Entscheidung. Dabei galt Tranströmer seit vielen Jahren als einer der Anwärter auf den Preis. Sein Werk umfasst insgesamt nicht mehr als etwa 100 Texte und verteilt sich auf einige wenige Gedichtbände, die auf Deutsch im Münchner Carl-Hanser-Verlag verlegt werden. 1993 erschienen Tranströmers Memoiren "Die Erinnerungen sehen mich". Da war Tranströmer bereits schwer krank, 1990 erlitt er den ersten von mehreren Schlaganfällen.

Der Sohn einer schwedischen Journalistenfamilie studierte in den 50er-Jahren Psychologie, Literatur- und Religionsgeschichte in seiner Geburtsstadt. Danach arbeitete Tranströmer als Psychologe. Sein schmales Oeuvre wurde in rund 50 Sprachen übersetzt. In ihrer Begründung lobt die Akademie Tranströmer als einen "der größten Poeten unserer Zeit". Seine dichte Bildersprache verschaffe "uns einen neuen Zugang zur Realität".

Die Gedichte Tranströmers heißen "Durch den Wald", "Lamento" oder "Das offene Fenster"; manchmal auch "November in der DDR" oder "Frauenporträt - 19. Jahrhundert". Sie sind lebensnah und realistisch, stellen manchmal aber auch das lyrische Ich in eine Traum- oder Innenwelt. Nicht selten sind seine Gedichte Naturbeschreibungen - wobei die Sonne erfreulich oft scheint, wenn der Blick über idyllische Landschaften wandert. Tranströmers Sprache ist assoziativ und verhakt die Bedeutungsebenen ineinander, ohne dabei ihre semantische Durchlässigkeit zu verlieren. Seine sprachlichen Mittel sind die der Verknappung und Verkürzung. Tranströmers Lyrik ist bildlich, manchmal befleißigt er sich des Mittels des Synästhesie und vermischt Sinnebenen miteinander: "In einer Mainacht ging ich an Land/bei kühlem Mondschein,/drin Gras und Blumen grau waren,/aber der Duft grün."

Tranströmers Poesie ist so gut wie immer zuversichtlich (der Titel eines Gedichts ist emblematisch: "Das Licht strömt herein"). In den kritischen 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts war das alles andere als ein Ausweis zeitgemäßen Dichtens: Tranströmer problematisierte nichts und war in den Aussagen seiner Gedichte nicht streitbar. Er sah sich nicht als kritischer Kommentator der Gesellschaft und gleich gar nicht als Ideologen, weshalb sich manche Leser von ihm abwandten.

In Schweden ist Tranströmer aber seit vielen Jahren wieder sehr populär. Sein letzter Gedichtband "Das große Rätsel" erschien auf Deutsch im Jahr 2005. Tranströmer werde in Schweden "als Poet geliebt", sagte Akademie-Sekretär Englund nach der Preisvergabe.

Interessanterweise nahm er dabei wie manch anderer auch zu der Tatsache Stellung, dass diesmal ein Schwede ausgezeichnet wurde. "Die schwedische Nationalität war eher ein Handicap für Tomas Tranströmer. Hätte er eine andere, wäre er sicher früher ausgezeichnet worden. Es wäre schon ein bisschen heikel, wenn andere glauben könnten, dass wir hier lokale Talente auszeichnen", sagte Englund.

Ein Gedicht von Tomas Tranströmer : Skizze im Oktober

Als ob es nicht gegen die Wahl beinah jedes Preisträgers durchaus stichhaltige Argumente gäbe! Auf die wenigsten Autoren können sich Kritiker und Leser einigen. Und so war es beim diesjährigen Prozedere wie stets: Die Kritiker-Ikone Marcel Reich-Ranicki äußerte sich etwas blasiert ("Ich habe keine Ahnung, wer der Lyriker ist"), eine weitere Stimme aus dem Betrieb brachte einen ewig Scheiternden ins Spiel (Denis Scheck: "Tranströmer ist nach Philip Roth die beste Wahl"), und der Preisträger war überwältigt: Tranströmer hörte gerade Musik zu Hause, als ihn die frohe Kunde erreichte - diesmal war es für den Überbringer der Nachricht ein Ortsgespräch.

Tranströmer kann wegen seiner Krankheit kaum noch sprechen. Und so sprach gestern seine Frau Monica Bladh-Tranströmer für ihn, sie berichtete von einem Gatten, der erst mal im Sessel saß, um tief durchzuschnaufen. Tranströmers Gedichte, die Ausfluss eines feinen Beobachters unserer gegenwärtigen Welt sind, werden in Zukunft auch hierzulande häufig gelesen werden. Das ist das Glück des Lyrikers, dessen Disziplin oft genug hinter der Prosa und dem Theater zurückstehen muss.

Der Literatur-Nobelpreis ist mit 1,1 Millionen Euro dotiert. Im vergangenen Jahr ging er an den Peruaner Mario Vargas Llosa. Die letzten deutschsprachigen Preisträger waren Günter Grass (1999), Elfriede Jelinek (2004) und Herta Müller (2009).