Kinder, die Schach spielen, haben bessere Noten. Das zeigt ein Langzeitversuch der Grundschule Genslerstraße in Barmbek.

Hamburg. Liv meldet sich als Erste, wie immer an diesem Morgen. Sie knipst mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand. Diesmal vergeblich. Auch Kelvin hat nämlich eine Idee: "Die Dame greift den weißen Springer an." Wo genau zieht sie hin? Hakan weiß es: "Nach g5!" Ludwig Fromm, der Schachtrainer, nickt zufrieden, brummt ein "Sehr gut!" in seinen Bart. Am magnetischen Demonstrationsbrett, das an der Tafel lehnt, nimmt er die gezackte schwarze Königin von d8 und stellt sie auf g5. Wieder schnellen die Hände hoch. "Springer schlägt Bauer f7", fordert Lorenz. "Das ist doch echt schlecht", meint Liv und schüttelt den Kopf, "ich nehme den Bauern g2, dann hast du ein Problem, aber richtig."

Schachstunde in der vierten Klasse der Grundschule Genslerstraße in Hamburg-Barmbek. Jeden Dienstag steht sie auf dem Plan, und sie gehört seit zwei Jahren zum Unterricht wie Mathematik, Deutsch, Kunst, Sport oder Musik. Eltern und Lehrer wollen es so. In der Genslerstraße läuft seitdem ein Pilotprojekt. Alle 420 Schüler der ersten bis vierten Klasse haben "Schach als Fach", wie es die Schulkonferenz für die Sechs- bis Zehnjährigen beschlossen und die Schulbehörde genehmigt hat. Das ist in Hamburg einmalig und in Deutschland eine Seltenheit. Insgesamt sieben Schulen bundesweit verfolgen ein ähnliches Konzept.

Den Kindern in der Genslerstraße scheint es zu gefallen. 330 von ihnen haben sich zur Teilnahme am traditionellen Hamburger Schulschach-Turnier Linkes gegen Rechtes Alsterufer gemeldet. Ein von der S-Bahn gesponserter Zug wird sie am Mittwoch um neun Uhr von den Stationen Rübenkamp und Alte Wöhr zum Congress Centrum am Dammtorbahnhof bringen und am frühen Nachmittag wieder zurück. "Im letzten Jahr haben wir gewonnen", sagt Kim, "und jetzt bin ich noch viel stärker." Die Neunjährige gehört zu jenen 60 Schülern, die nachmittags in freiwilligen Kursen ihre Schachkenntnisse weiter vertiefen. 15 von ihnen spielen Schach inzwischen auch noch im Verein.

Monika Küsel-Pelz ist die Rektorin der sportbetonten Grundschule Genslerstraße. Wenn die 58-Jährige über ihre Schule spricht, blitzt Begeisterung aus ihren Augen. Sie ist dann in ihrem Redefluss kaum zu stoppen. "Es geht immer um die Frage: Bringen Eltern gern ihr Kind zu uns? Und das tun sie, weil wir vielfältige Lernprozesse organisieren", sagt sie. Die Anregung ihres Rektoren-Kollegen Björn Lengwenus von der benachbarten Haupt- und Realschule Fraenkelstraße, Schach in den Unterricht zu integrieren, hat sie sofort fasziniert. "Das mathematische Denken prägt unseren Alltag sowohl durch vernetzendes Denken als auch durch die Situationsanalyse", sagt sie. Mathematik heiße nachzudenken und den Ereignissen immer einen Schritt voraus zu sein. Je früher Kinder spielerisch an diese Aufgaben herangeführt werden, desto schneller und leichter werde es ihnen fallen, mathematische Probleme zu erkennen, Alltagsprobleme zu lösen und Strategien für das eigene Handeln zu entwickeln.

Schach also, eine Stunde pro Woche. Zuerst nur statt Mathematik, seit diesem Schuljahr auch anstelle anderer Fächer wie Deutsch, Kunst oder Musik. Den Unterricht geben diplomierte Schachtrainer wie Ludwig Fromm, dessen Ehefrau Rita Kas-Fromm und Maximilian Schrader vom Barmbeker Schachklub Schachelschweine. Das Argument, das Eltern und Lehrer überzeugt hat, war eine Studie des Zentrums für psychologische Diagnostik der Universität Trier. Sie lief von 2003 bis 2007 an der Olewig-Grundschule und ergab: Kinder, die in diesen vier Jahren Schach an der Schule gelernt hatten, waren weit leistungsstärker als diejenigen, die nur im herkömmlichen Fächerkanon unterrichtet wurden. Das Mathematik- und Leseverständnis der Schachspieler war bei einem Vergleichstest in der vierten Klasse doppelt so gut wie der Landesdurchschnitt in Rheinland-Pfalz, das Leseverständnis 2,5-mal besser, das Sprachverständnis dreimal so gut wie jenes der Nichtschachspieler.

Den Autoren der Studie fiel zudem auf, dass sich die allgemeine Intelligenz der Schachspieler signifikant steigerte und leistungsschwache Schüler auffällige Fortschritte machten. Ähnliche Ergebnisse erbrachten Auswertungen des Schachunterrichts an anderen Grundschulen und in anderen Ländern. Die Leistungsfähigkeit der Kinder wuchs ebenso wie die Aufmerksamkeit und das Konzentrationsvermögen. Im Bericht zur Evaluation der Wirkung des Schulversuchs Schach an der Grundschule St. Georgen im Schwarzwald heißt es: "Die Resultate zeigen, dass der Zuwachs weit über dem liegt, was man von altersgemäßen Entwicklungen her erwarten konnte." Und: "Die Fehlleistungen wurden gerade bei denen am deutlichsten reduziert, die es am notwendigsten hatten. Die Erhöhung der Konzentration geht auch daraus hervor, dass die Leistungen in den einzelnen Zeitabschnitten des jeweiligen Durchlaufs regelmäßig waren."

Auch in der Genslerstraße sind diese Phänomene schon zwei Jahre nach dem Start des Experiments zu beobachten. Bei der Lernstandserhebung der Hamburger Schulbehörde schnitt die Schule im Sommer 2009 besser als je zuvor ab. In Mathematik wurden die Lernziele der vergangenen Jahre problemlos erreicht, obwohl das Fach eine Stunde weniger pro Woche unterrichtet worden war. Auf weiterführenden Schulen verbesserte die Mehrzahl der Schüler aus der Genslerstraße ihre Mathematik-Noten oder sie ließen zumindest Leistungssteigerungen erkennen. Nur wenige fielen ab.

"Es ist auffällig, dass unsere Schüler heute wesentlich strukturierter an mathematische Sachaufgaben herangehen", berichtet Lehrerin Meike Liebel. Steuerten diese früher spontan auf eine Lösung zu, überlegen sie jetzt ihr Vorgehen, wägen wie vor einem Schachzug das Für und Wider ab. Manche machen sich sogar Notizen. Bemerkenswert sei, sagt Liebels Kollegin Bettina Queck, "dass wir schwächere Schüler über Erfolgserlebnisse beim Schach motivieren können". Das am Brett erworbene Selbstbewusstsein wirke sich positiv auf die Lernbereitschaft in anderen Fächern aus. Monika Küsel-Pelz freuen diese Berichte. "Das zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es wäre aber voreilig, diese Resultate allein auf den Schachunterricht zurückzuführen. Um zu einer solchen Aussage zu gelangen, sollten wir noch ein paar Jahre Erfahrungen sammeln."

Für Björn Lengwenus stehen die Zusammenhänge bereits zweifelsfrei fest. Lengwenus, 37 Jahre alt, ist Hamburgs Schulschach-Referent und Autor des vielfach preisgekrönten Schachlernprogramms "Fritz & Fertig". Er arbeitet gerade einen Lehrplan für Schach aus. Den gibt es noch nicht. "Schach befähigt Kinder auf spielerische Weise, ohne dass sie es merken, zielorientiert zu arbeiten, sodass sie in weniger Zeit mehr lernen können. In einer Schachpartie müssen sie Zug für Zug komplexe Stellungsprobleme lösen und ständig Entscheidungen treffen. Das schult", sagt Lengwenus. Diese Qualität hätten zwar auch andere strategische Spiele, "aber versuchen Sie mal eine Schulstunde Backgammonunterricht statt Mathematik bei Eltern, Lehrern und Behörden durchzusetzen. Da hat man es mit Schach schon leichter, Vorbehalte auszuräumen." Die meisten Spiele, meint Lengwenus, seien grundsätzlich geeignet, um Sachverhalte zu vermitteln, die Kinder sich im normalen Unterricht eher mühsam aneignen. "Beim Spielen ist jedes Kind motiviert", sagt Lengwenus. Intrinsische Motivation nennen das die Pädagogen.

Nicht nur die kognitive, ebenso die soziale Entwicklung fördert das regelmäßige Schachspielen, haben Lengwenus und Küsel-Pelz festgestellt. "Wir haben einen Schüler", erzählt Küsel-Pelz, "der hat noch vor einem Jahr nach jeder Niederlage die Figuren vom Brett gewischt. Heute gibt er seinem Gegner die Hand und gratuliert ihm, wenn er verloren hat." Verlieren haben auch die Lehrer lernen müssen. Die meisten sind selbst Anfänger. Die besten Schüler sind ihnen längst überlegen. Monika Küsel-Pelz hat damit kein Problem, im Gegenteil, das gehört zu ihrem Verständnis von Pädagogik: "Wenn ich mal eine Partie spiele, höre ich manchmal Schüler hinter mir tuscheln: 'Spiel ruhig mit der, die verliert immer.' Das stört mich nicht, und das zeige ich auch." Als Lehrer, sagt Lengwenus, "musst du nicht immer alles besser können als deine Schüler. Du musst jedoch in der Lage sein, gemeinsam mit ihnen Lösungen zu finden."

Das gemeinsame Schachspielen, hat Lengwenus erfahren, trägt an seiner Schule und in der Genslerstraße viel zum gegenseitigen Verständnis von Lehrern und Schülern bei. Zum Beweis erzählt Lengwenus, selbst ein starker Vereinsspieler, immer wieder gern diese Geschichte: "Zwei Lehrer spielten gegeneinander, als sich plötzlich für Weiß eine Möglichkeit zum Gewinnen eröffnete. Wie ich es auch bei meinen Schülern mache, sagte ich: 'Halt! Hier gibt es etwas Besonderes. Schaut jetzt mal genau in die Stellung.' Da kam ein Schüler dazu, der acht Jahre alte Nils, und sagte: 'Herr Lengwenus, Sie müssen nicht so streng mit den beiden sein. Die spielen doch erst seit Kurzem Schach.'"

Die Notation der Kurzpartie aus der Schachstunde der vierten Klasse: Weiß zieht 1. (Bauer) e2-e4, Schwarz antwortet e7-e5; 2. S(pringer)g1-f3, Sb8-c6; 3. L(äufer)f1-c4, Sc6-d4 (eine Falle!); 4. Sf3x(schlägt)e5 (Weiß tappt in sie hinein!), D(ame)d8-g5; 5. Se5xf7, Dg5xg2; 6. T(urm)h1-f1, Dg2xe4+ (Schach); 7. Lc4-e2, Sd4-f3 matt.