Polizisten, Richter und Psychologen beklagen zunehmenden Egoismus, Härte und Intoleranz auf der Straße. Woher kommen Wut und Aggression?

Hamburg. Es ist ein Gefühl, das Zehntausende teilen, die täglich oder gelegentlich mit Auto, Motorrad, Lkw oder Fahrrad auf den Straßen der Stadt unterwegs sind: ein Gefühl, das sich zwar nur schwer mit Zahlen belegen lässt, das Experten von Polizei, Verkehrsclubs und Psychologen aber durchaus sehr ernst nehmen: Der Ton auf Hamburgs Straßen wird rauer, der Egoismus im Verkehr nimmt zu, Rücksichtnahme scheint im Alltagsstress immer seltener möglich oder gewollt zu sein. Zuparken. Bedrängen, ausbremsen, anhupen und verbale Ausfälle. Wer im Individualverkehr von A nach B will, sieht sich zunehmend einer "Jeder gegen jeden"-Situation ausgesetzt. Dabei sagen laut einer aktuellen Studie von "AutoScout" 97 Prozent der Autofahrer, dass sie sich mehr Rücksichtnahme im Verkehr wünschen. Woran also liegt es, dass diese Tugend gerade am Fahrradlenker und hinterm Lenkrad offenbar immer seltener zutage tritt? Eine Spurensuche im täglichen Asphalt-Abenteuer.

Zum Beispiel am Eppendorfer Baum: Ein Mann will seinen Sohn vom Kinderwagen ins Auto setzen, als ihn eine Radfahrerin anpöbelt: "Das kann ja wohl nicht sein!" Nahezu zeitgleich stoppt der Sohn der Frau, schlägt auf den Kinderwagen ein. "Keine Diskussion", brüllt die Frau, als der Mann fragt, was das denn soll, "das ist eine riesengroße Sch..., was Sie hier gemacht haben." Dann rauscht sie davon.

Auch der Leiter der Verkehrsdirektion bei der Hamburger Polizei, Karsten Witt, hat festgestellt, dass in den vergangenen Jahren "das Klima auf der Straße rauer geworden ist". Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme, wie es die Straßenverkehrsordnung als Leitgedanken formuliert, werde kaum noch beherzigt. Beispielhaft nennt Witt den unsinnigen Kampf um ein paar Meter Raumgewinn auf mehrspurigen Straßen. Da wechselten Autofahrer permanent die Spur, nur um fünf Meter näher an der Haltelinie vor der roten Ampel zum Stehen zu kommen. "Das erleben wir zigtausendmal, das sind zigtausend Verkehrsgefährdungen, und dadurch kommt es vermehrt zu Unfällen", sagt Witt über den alltäglichen Ärger. Dies zu ahnden sei schwierig, zumal es sich streng genommen nicht um Verkehrsverstöße handele.

Über die Kampagne des Deutschen Verkehrssicherheitsrats aus den 70er-Jahren "Hallo Partner - danke schön", die vor allem auf eine solidarische Grundhaltung der Autofahrer zielte, könnten Verkehrsteilnehmer heute bestenfalls lächeln, glaubt Witt. Stattdessen gelte offenbar das Primat des Stärkeren, nach dem Motto: "Jeder gegen jeden", so der Direktionsleiter. "Fußgänger gegen Radfahrer und umgekehrt. Radfahrer gegen Autofahrer und umgekehrt, Autofahrer gegen Autofahrer." Die Verkehrsräume seien eng in Hamburg, Solidarität und Rücksichtnahme müssten daher eigentlich selbstverständlich sein. "Aber stattdessen pochen viele nur auf ihr Recht. Oder das, was sie dafür halten."

Zum Beispiel der Mercedes-Fahrer am Mundsburger Damm: Er will in den Uhlenhorster Weg abbiegen, doch es geht ihm nicht schnell genug, weil noch einige Wagen vor ihm stehen. Kurzerhand fährt er über den Fußweg, sodass mehrere Passanten zur Seite springen müssen.

Das zunehmend selbstsüchtige Verhalten im Straßenverkehr sei letztlich das Abbild einer Gesellschaft, deren Mitglieder immer rücksichtsloser miteinander umgingen. "Das erleben wir tagtäglich in unzähligen Situationen", so Witt. Etwa, wenn Autofahrer in volle Kreuzungen einfahren, um ja noch über eine grüne Ampel zu huschen - und auf diese Weise doch nur dafür sorgen, dass der Verkehrsfluss erst recht ins Stocken gerät. Oder wenn Eltern ihr Kind mit dem Auto zur Schule bringen und einen Fahrradweg neben dem Gebäude zuparken, damit ihr Kind nicht noch die Straße überqueren muss. Auf der anderen Seite werde kein Gedanke daran verschwendet, dass andere Kinder, die mit dem Rad unterwegs sind, nun auf die Straßen ausweichen müssen.

Den klassischen Rüpel, den gebe es gar nicht, sagt Witt. Ungeduld, Intoleranz, eine geringe Frustrationsschwelle - diese Probleme zögen sich quer durch alle Sozial- und Altersschichten. Es seien Probleme der "Otto Normalos", der "Masse". Wenn er Verkehrsteilnehmern etwas ins Buch schreiben könne, so Witt, "dann auf jeden Fall mehr Gelassenheit".

Im Verkehrsbericht für das Jahr 2011 listet die Polizei neben 559.341 Parkverstößen auch 496.457 gemessene Geschwindigkeitsverstöße auf - deutlich mehr als jeweils in den fünf Jahren zuvor. Die Zahl der Rotlichtverstöße ist deutlich gesunken. Erste Erfolge einer ganzen Reihe von Schwerpunktkontrollen? Auch auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar beschäftigten sich Experten vor Kurzem eingehend mit dem Phänomen "Aggression im Straßenverkehr". Eine der Ursachen sei der allgegenwärtige Zeitdruck, sagte nach der Tagung Rainer Hillgärtner vom Automobilclub ACE: "Als Reaktion darauf lassen die Leute hinterm Steuer dann ihren ganzen Frust raus. Sie werden wortwörtlich rasend aggressiv."

Zum Beispiel jeden Morgen am Johannes-Brahms-Platz: Vom Sievekingplatz kommend, geht eine Fahrspur geradeaus in die Kaiser-Wilhelm-Straße, die linke biegt in den Valentinskamp ab. Viele Pendler, die hier regelmäßig unterwegs sind, fahren auf der linken - meist weniger befahrenen - Spur und drängeln sich kurz vor deren Ende noch rechts herein. Alle Autos dahinter müssen weiter warten.

Dabei handelt es sich bei Verkehrsverstößen beileibe nicht nur um "Kavaliersdelikte": Wer im Auto Leib und Leben eines anderen gefährdet, kann mit fünf Jahren Haft bestraft werden. Im Jahr 2010 wurden bundesweit 174.558 Menschen wegen Straftaten im Straßenverkehr verurteilt. 85 Prozent waren Männer. 2011 kamen erstmals seit zehn Jahren wieder mehr Menschen im Verkehr ums Leben als im Vorjahr. 3991 Menschen (fast zehn Prozent mehr als im Vorjahr) starben auf den Straßen, in Hamburg waren es 34, eine außergewöhnlich hohe Zahl. 2012 kamen 16 Menschen auf den Straßen ums Leben.

Die Hamburger Gerichte beschäftigen sich tagtäglich mit Verkehrsdelikten. Darunter auch wahrhaft skurrile Kfz-, Motorrad-, Lkw- oder Fahrradfahrer: Mohammad N. jagte mit seinem Taxi einen Radfahrer - angeblich hatte er ihm die Vorfahrt genommen. Familienvater Jens D. wurde verurteilt, weil er an einer Dulsberger Ampel einen Autofahrer mit einer Axt und den Worten "Dir hacke ich den Kopf ab!" bedrohte. Er musste 150 Tage gemeinnützige Arbeit leisten. 300 Euro Geldbuße musste Ali D. begleichen, nachdem er einem Arzt im Kampf um eine Parklücke in Eimsbüttel den Arm ausgekugelt hatte. 3600 Euro musste ein Audi-TT-Fahrer bezahlen, der zwei junge Frauen, die ihm nicht schnell genug auf die rechte Spur gewechselt waren, bedrohte. Mit 60.000 Euro bestrafte das Gericht einen bekannten Immobilienmanager, der sich im Kampf um eine Parklücke zu dem Satz "Verpiss dich, du Arschloch. Du kennst die Regeln wohl nicht!" hatte hinreißen lassen.

Tatort Eppendorfer Weg: Ein Auto blinkt und stoppt. Der Fahrer will offensichtlich in eine freie Parklücke. Ein anderes Auto überholt ihn, schert scharf rechts ein und fährt selber in die Parklücke. Aus dem geparkten Auto steigt eine Frau aus und guckt sich nicht einmal um, als sie zurückschreit: "Musst du halt schneller sein!"

Zu mehr Gelassenheit im Straßenverkehr rät auch der Hamburger Verkehrspsychologe Rüdiger Born: "Starke Gefühle haben am Steuer an sich nichts zu suchen. Sie sind der Sicherheit nicht zuträglich." Der TÜV rät Autofahrern zudem, bei aufkommender Aggression tief durchzuatmen, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen. Meist stecke hinter scheinbarem Fehlverhalten nämlich keine Absicht. Und nur in den seltensten Fällen eine, die einen persönlich treffen soll.