Der größte Feind der Autofahrer ist ihr Zeitdruck, es geht aber auch ohne Drängeln und Dauerhupen.Ein Selbstversuch

Hamburg. Der Versuchsaufbau ist einfach und entbehrt nicht gewisser Klischees: Fahre mit dem Auto einen Tag lang durch die Stadt, auch auf den Autobahnen, und halte Ausschau nach aggressiven Verkehrsteilnehmern. Fahre dabei so peinlich korrekt, als ob ein Führerscheinprüfer auf der Rückbank säße. Fahre nicht über Rot, auch nicht über Dunkelgelb und blinke rechtzeitig. Sei ein selbst ernannter Verkehrserzieher!

Mein Auto, ein roter Golf III mit satten 75 PS, ist 19 Jahre alt, technisch okay (das meint jedenfalls der TÜV), optisch jedoch weniger. Wer solch eine angeranzte Karre fährt, ist ein potenzielles Verkehrshindernis. Dabei halte ich mich selbstverständlich für den besten Autofahrer aller Zeiten. Wer tut das nicht? Schließlich bin ich seit dem 20. Februar 1979, als ich meine Führerscheinprüfung im ersten Anlauf bestand, noch immer ohne einen einzigen Punkt unterwegs. Sie wissen schon: Alle anderen um mich herum sind Idioten.

Der Testtag ist der 31. Januar 2013, ein regnerischer Donnerstag. Um 7 Uhr reihe ich mich in den morgendlichen Berufsverkehr ein, der von der Autobahn 24 über den Horner Kreisel und die dreispurige Sievekingsallee stadteinwärts rollt - einer von rund 550.000 Kraftfahrern, die im Durchschnitt täglich auf den Straßen unserer Stadt unterwegs sind, bei 841.000 gemeldeten Kraftfahrzeugen (Stand 2011) in Hamburg insgesamt.

Knapp 100 Meter nach der Kreuzung Landwehr/Bürgerweide erwartet mich eine erste Bewährungsprobe: Reißverschlussverkehr durch die Verengung von drei Fahrspuren auf eine Fahrspur; bedingt durch einen Falschparker, der das zeitlich eingeschränkte Halteverbot von 7 bis 10 Uhr ignoriert hat. Warum der von der Polizei herbeigerufene Abschleppwagen sich jedoch ausgerechnet auf der mittleren Spur breitmacht, anstatt vor dem Falschparker, und warum der Fahrer ausgiebig Beweisfotos macht, wird wohl ewig sein Geheimnis bleiben.

Drängler, Drücker, Dauerhuper? Fehlanzeige, jedenfalls an diesem Morgen. Noch im milden Spätherbst hatte auf der Bramfelder Chaussee ein tiefer gelegtes 323 i-BMW-Cabrio, besetzt von zwei sonnenbebrillten Jungspunden, mit waghalsigen Spurwechseln und Ampelsprints für mehrere heftige Bremsmanöver im dichten Berufsverkehr gesorgt. Ich war fast in ein anderes Auto hineingerauscht. An der Kreuzung Steilshooper Allee, an der roten Ampel, hatte ich mir dann erlaubt, den BMW-Fahrer durchs offene Fenster mehr oder weniger höflich auf seinen verwegenen Fahrstil hinzuweisen. Ich gebe es zu: Mein Ton war wohl weniger höflich gewesen. Die Antworten der Kontrahenten waren nicht druckfähig, mir wurden Prügel angedroht, und wahrscheinlich rettete mich die grüne Ampel, doch zwei Wochen später kam dann noch eine Beleidigungsklage ins Haus geflattert, die jedoch nach meiner schriftlichen Stellungnahme von der Staatsanwaltschaft Hamburg eingestellt wurde.

Auch an diesem Testtag sind es stets Einzeltäter, die unbedingt noch rasch in eine viel zu eng bemessene Lücke einscheren müssen. Die es nicht ertragen können, dass sie von einem ächzenden Kleinwagen überholt werden, denn wie ist es anders zu erklären, dass der dunkelblaue Range Rover die linke Spur auf der A 7 ab der Ausfahrt Moorburg Richtung Hannover etwa fünf Kilometer lang mit Tempo 100 beschleicht, nicht freigibt, und erst für einen Porsche zur Seite geht, dann noch zwei Audis passieren lässt, aber Vollgas gibt, als ich ihn mit Tempo 130 überholen will.

Warum gibt es Fahrer, die es nicht kapieren wollen, dass es an der Kreuzung Wagnerstraße/Hamburger Straße eine Extragrün-Phase für Radfahrer gibt? Andererseits kennen Vielfahrer sicherlich auch den Zorn, der in ihnen hochsteigt, wenn Radfahrer Kopf und Kragen riskieren oder Fußgänger bei Rot trotzdem loslaufen und dann auch noch provozierend langsam über die vierspurige Durchgangsstraße schlendern. Doch dieser Zorn entsteht eben nur dann - oder wird besonders heftig -, wenn der Autofahrer es eilig hat, aus welchen Gründen auch immer. Oder warum gibt es Fahrer, die einfach ihren Stiefel durchziehen, direkt hinterm Steuer kleben, gebannt nach vorne starren und aus ihren Richtungswechseln ein gefährliches Ratespiel kreieren, in der Hoffnung, dass die anderen schon rechtzeitig bremsen werden?

Um meinen Puls noch zu beschleunigen, beschließe ich, auf einen Parkplatz in der Sackgasse Lange Mühren, zwischen dem Kaufhof und dem Saturn-Markt am Hauptbahnhof, zu spekulieren. Hier parke ich häufig, und ich weiß: Wenn ich mich aufregen will, dann klappt es hier garantiert. Zumeist warten drei bis vier Autofahrer mehr oder weniger geduldig auf einen der begehrten Kurzzeit-Parkplätze. Also stellt man sich hinten an, schön weit rechts am Ausgang der Sackgasse. Irgendwann wird das Wunder schon passieren, es sei denn, ein Vollpfosten ignoriert die unübersehbare Warteschlange, drängelt sich vorbei und schnappt sich die gerade frei gewordene Parklücke. Wenn man diese Leute auf ihr asoziales Fahrverhalten anspricht, erntet man fast immer Unverständnis. Und rüde Worte.

Um 17.37 Uhr staut sich der Verkehr auf der A 7 vor dem Elbtunnel in Richtung Hannover. Grund ist der zäh fließende Verkehr auf der A 23 bei Halstenbek. Ein paar ganz Eilige scheren bereits 500 Meter vor der Ausfahrt verbotenerweise auf den Standstreifen aus. Interessant ist es zu beobachten, dass nun ausgerechnet die Fahrer, die korrekt herausfahren, von den Dränglern nur unwillig hereingelassen werden.

Um 22.57 Uhr kassiere ich nach 16 Stunden und 354 Kilometer Stadtverkehr meine erste Lichthupe. Dabei fahre ich fünf km/h schneller als erlaubt über die Sievekingsallee. Ich ziehe nach rechts und mache den Weg frei für ein 6,3-Liter-Mercedes-Coupé mit Ludwigsluster Kennzeichen, Camouflage-Lackierung und Niederquerschnittsreifen. An der nächsten Ampel stehe ich neben ihm und grinse provozierend freundlich hinüber. Der Milchbubi am Steuer duckt sich weg. Wie war das noch mit den Klischees? Sie sind alle wahr.