Hafenschlick-Verklappung und Elbvertiefung erhitzen derzeit die Gemüter. Abendblatt-Redakteur Peter Ulrich Meyer fasst zusammen.

Karl Marx hat der Nachwelt nicht nur eine gründlich widerlegte Gesellschaftstheorie hinterlassen, sondern auch den einen oder anderen Satz, dessen Wahrheitsgehalt trotz allem von gewissermaßen zeitloser Schönheit ist. "Das Sein bestimmt das Bewusstsein", lautet eine seiner Sentenzen. Auf die Politik übertragen bedeutet sie, dass die Überzeugungen schon einmal wechseln können, je nachdem ob man gerade in der Regierung sitzt oder auf den Oppositionsbänken schmort.

Wie sehr Marx mit seiner Erkenntnis recht hat, zeigte sich am Mittwochabend im Rathaus. Die FDP-Bürgerschaftsfraktion hatte zu ihrem Herbstempfang in den Großen Festsaal geladen. Fraktionschefin Katja Suding nutzte den feierlichen Rahmen, um vor mehr als 500 Gästen mächtig gegen die allein regierende SPD und vor allem Bürgermeister Olaf Scholz zu Felde zu ziehen. "Chaos" allenthalben diagnostizierte die Spitzenliberale. Von "gutem Regieren" könne keine Rede sein.

Stümperhaft sei Scholz' Vorgehen nicht zuletzt bei der geplanten Elbvertiefung gewesen, sodass der vorläufige Baustopp des Bundesverwaltungsgerichts vor zwei Wochen wie die zwangsläufige Folge des Senatsversagens erschien. Und dann streite sich der Senat auch noch mit Schleswig-Holstein über die Austragung einer Windmesse, höhnte Suding. "Deswegen wird Hamburg jetzt seinen Hafenschlick in Schleswig-Holstein nicht mehr los", sagte die Fraktionschefin.

Direkt nach Suding sprach ihr Parteifreund Stefan Birkner, niedersächsischer Umweltminister und schon von (Regierungs-)Amts wegen ein Mann der Mäßigung. Und siehe da - auf die liberale Schelte folgte das liberale Lob des Senats. Es ist alles nur eine Frage der Perspektive. Karl Marx hätte seine Freude gehabt. "Die Zusammenarbeit zwischen Hamburg und Niedersachsen ist beim Thema Elbvertiefung gut gelungen", berichtete Birkner dem angesichts dieses liberalen Wechselbads möglicherweise erstaunten Publikum. Bedenken hinsichtlich der Deichsicherheit seien ausgeräumt worden, und am Ende hätte die Zustimmung der südlichen Nachbarn zur Ausbaggerung der Fahrrinne gestanden. Freundlich bat der Mann aus Hannover nur darum, immer so frühzeitig in die Planungen der Hansestadt eingebunden zu werden wie beim Thema Elbvertiefung.

Hamburg habe ein Problem mit den giftigen Sedimenten aus dem Hafen? "Wir sind bereit, über die Lagerung von Hafenschlick in Niedersachsen mit Hamburg zu sprechen", gab Birkner zu Protokoll. Senatskanzleichef Christoph Krupp (SPD), der als Vertreter des Senats bei der FDP-Feier bis dahin wenig Erbauliches zu hören bekam, müssen in diesem Moment die Ohren geklungen haben. Die Offerte vom politischen Gegner, einem aus der Patsche zu helfen - noch dazu vor 500 Zeugen -, gehört nicht eben zu den Alltagserfahrungen des Sozialdemokraten.

Krupp übermittelte das Angebot sofort dem für Hafenschlick zuständigen Wirtschaftssenator Frank Horch (parteilos). Und schon am Donnerstag erklärte Horch im Wirtschaftsausschuss der Bürgerschaft ungefragt, er werde mit Niedersachsen über die Hafenschlick-Verklappung verhandeln. Seinem Ministerkollegen Birkner hat Horch schon einen freundlichen Brief geschrieben. "Ich begrüße das Angebot aus Niedersachsen sehr, auch aufgrund der schwierigen Lage, in der wir sind", sagte Horch am Freitag dem Abendblatt. Damit spielte der Senator auf die Querelen mit Schleswig-Holstein an. Er gehe allerdings weiter davon aus, so Horch, dass es letztlich doch zur Einigung mit Schleswig-Holstein über die Lagerung des Hafenschlicks an der Tonne E 3 vor Helgoland komme.

Auch der Kieler SPD-Fraktionschef Ralf Stegner hatte sich in dieser Woche bei einem Besuch im Rathaus alle Mühe gegeben, den Eindruck zu vermeiden, dass der Norden die Hafenmetropole im Regen stehen lässt. "Das Thema Hafenschlick muss gelöst werden, und es wird gelöst werden", versprach Stegner. Es ist vor allem der SPD-Koalitionspartner der Grünen, der sich querlegt und den Hafenschlick-Vertrag als Faustpfand im Windmessen-Streit mit Hamburg nutzen will. Der Grünen-Umweltminister Robert Habeck hatte den von ihm mit Horch fertig ausgehandelten Vertrag im Kieler Kabinett Ende September plötzlich angehalten. Seitdem liegt die Sache auf Eis.

Horch hat nun jedenfalls eine mögliche Alternative. Es wäre nicht das erste Mal, dass Niedersachsen die kontaminierte Fracht übernimmt. Vor Jahren ist Hafenschlick vor Cuxhaven verklappt worden. Mitte der 90er-Jahre gab es eine heftige Debatte über die unterirdische Lagerung des belasteten Materials im Landkreis Stade. Der US-Konzern Dow Chemical hatte Hamburg damals angeboten, jährlich 700 000 Kubikmeter Hafenschlick in Salzkavernen bei Ohrensen zu entsorgen. Das Geschäft scheiterte nur am Preis. Das Geld spielt natürlich auch bei den heutigen Gesprächen eine gewisse Rolle ...

Bleibt die Frage nach der Motivation. Was treibt den niedersächsischen Umweltminister Birkner, Mitglied der schwarz-gelben Landesregierung, dazu, für den roten Hamburger Senat die Kastanien aus dem Feuer holen zu wollen? Altruismus, also reine Menschenfreundlichkeit, ist in der Politik bekanntlich eine Schimäre. Es kommt noch hinzu, dass Birkner mit seinen Liberalen in den Wahlkampf geht. Am 20. Januar 2013 wird der neue Landtag gewählt. Mit Hafenschlick dürften in der Umweltpolitik auch für die FDP kaum Stimmen zu holen sein.

In Hamburg macht man sich schon Gedanken darüber, ob der Niedersachse irgendein Koppelgeschäft im Blick hat. Vielleicht wollte der Liberale Birkner auch einfach nur seinem Schwager eins auswischen. Denn das ist ausgerechnet sein Kieler Amtskollege Habeck von den Grünen. Insofern bestimmt auch das familiäre Sein das Bewusstsein.

Karl Marx lässt grüßen.