Experten kritisieren besonders das Amt in Hamburg-Mitte. Sonderausschuss zum Tod von Chantal will sich auch mit Fall Jule befassen.

Hamburg. "Nach dem tragischen Tod von Jessica 2005 in Jenfeld war in Hamburg ein Geist zu spüren, die Jugendhilfe grundlegend zu verbessern", sagte Georg Ehrmann gestern im Rathaus. Sieben Jahre später machte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe die traurige Feststellung: "Hamburg ist in einzelnen Bereichen des Jugendhilfesystems seitdem leider keinen Schritt weitergekommen."

Ehrmann war wie 2005 als Gutachter vom Sonderausschuss "zum Tod des Mädchens Chantal" mit fünf weiteren Experten nach Hamburg eingeladen worden. Die Elfjährige war im Januar dieses Jahres in der Wilhelmsburger Wohnung ihrer drogenabhängigen Pflegeeltern an einer Methadon-Vergiftung gestorben. Es war das zweite tote Kind in der Zuständigkeit des Jugendamts Hamburg-Mitte: Im März 2009 war Lara Mia im Alter von neun Monaten stark unterernährt gestorben.

Und vor vier Tagen deckte das Abendblatt einen neuen Skandal auf. Drei Jahre lang lieferte sich das Jugendamt Hamburg-Mitte einen absurden Machtkampf mit Sabine und Holger Schuster, den Pflegeeltern von Jule (alle Namen geändert). Zuerst wurde den Pflegeeltern die elterliche Sorge entzogen und Sabine Schuster ein krankhaftes Verhalten unterstellt. Der zuständige Gesundheitspfleger vom Amt verweigerte dann dem von Geburt an schwer behinderten Mädchen gegen den Rat von drei Fachärzten die nötigen Medikamente - ohne das Mädchen gesehen zu haben, denn dafür fehlte ihm die Zeit. Und schließlich versuchte das Amt, Jule aus der Familie zu holen. Erst ein Gutachter entlastete die Familie und kritisierte massiv das Jugendamt, weil die Mitarbeiter das Mädchen über Jahre nie persönlich kennengelernt hatten.

Auch der Fall Jule soll in einer der nächsten Sitzungen aufgearbeitet werden. Er warf schon gestern die Frage auf: Handelt es sich hier um dramatische Einzelfälle, oder liegt der Fehler im System? Birgit Nabert, Vorsitzende von Kindern in Adoptiv- und Pflegefamilien (KIAP) hat in Hamburg in 15 Jahren mehr als 20 Pflegefamilien mit dramatischen Verläufen betreut. "Das Jugendamt Hamburg-Mitte ragt bei unserer Krisenhilfe heraus, dann kommt Eimsbüttel." In diesen Ämtern sei es nicht möglich, selbst kleinste Kompromisse mit den Mitarbeitern hinzubekommen. Diese dürften die Vorgeschichte der Pflegekinder oder medizinische Berichte der behandelnden Ärzte ignorieren und vor Gericht falsche Angaben machen, ohne dass dies Konsequenzen habe. "Da müssen Sie nachfragen, warum das so ist", lautet ihr Rat an die Ausschuss-Mitglieder.

Georg Ehrmann nannte es "dramatisch", dass es in Hamburg nach sieben Jahren immer noch nicht gelungen sei, die elektronische Fallakte einzuführen. "Das führt dazu, dass Akten nicht vollständig sind oder von der Qualität jedes einzelnen Sachbearbeiters abhängen." Er kritisierte weiter: "Was nützt es, wenn man eine Hotline einführt, aber dann keine Hausbesuche durchführt?" Ehrmann sagte, Hamburg habe in der Jugendhilfe kein finanzielles Problem: "Das beweist der ständige Anstieg der Ausgaben in diesem Bereich." Aber: "Eine gute Jugendhilfe setzt das Ende von Herrschaftswissen voraus." Ehrmann nannte die freien Träger eine "Säule der Jugendhilfe", aber er monierte, dass diese in Hamburg quasi "eine eigene Rechtsstellung" haben. Er kritisierte die Delegation der Arbeit an freie Träger ohne vertragliche Vereinbarungen, ohne Zielvereinbarungen, ohne Kontrolle. Die freien Träger könnten sich entscheiden, welche Informationen sie an den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) im Jugendamt weitergeben. "Wenn 70 Prozent der freien Träger den regelmäßigen Austausch von Informationen über die Familien nicht mitmachen oder es über einen Zeitraum von 20 Monaten zu keinem Kontakt untereinander kommt, dann haben sie eine zu große Macht", sagte Ehrmann.

Der Soziologe Christian Erzberger riet den Parlamentariern: "Entwickeln Sie einheitliche Standards für die einzelnen Jugendämter." Professor Klaus Wolf von der Universität Siegen gab zu bedenken: "Die Verabschiedung von Standards bedeutet nicht, dass sie auch wirksam eingeführt werden." Da müsse man die Mitarbeiter einbeziehen.

"Das beste Mittel aber, um das Risiko eines erneuten Todesfalls zu minimieren, ist die größtmögliche Unterstützung der Pflegeeltern", sagte Elisabeth Helmig vom Deutschen Jugendinstitut in München.