2009 verhungert Lara Mia, neun Monate, im Februar 2012 stirbt Chantal, 11, in der Wohnung ihrer Pflegeeltern in Wilhelmsburg. Zur gleichen Zeit tobt ein “Krieg“ um Jule, 11, die von ihren Hamburger Pflegeeltern mit Liebe und Fürsorge großgezogen wird. Was läuft so entsetzlich falsch im Jugendamt Hamburg-Mitte ? Eine Spurensuche

Jule kommt aus der Schule und mustert den Besucher am Esstisch mit großen Augen. Sie ist ein hübsches Mädchen. Sie ist schlank, dunkelhäutig, wird bald zwölf und wirkt etwas älter. Sie lächelt schüchtern. Jule kann schwimmen und Flöte spielen. Sie übt auf dem Saxofon und hat ein gutes Rhythmusgefühl. Sie liebt die Musik. In der Schule kommt sie einigermaßen mit, aber oft ist sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche sowie Probleme mit dem Rechnen. Manchmal rastet sie aus. Furchtbare Wutanfälle sind das. Impulskontrollverluste nennen es die Ärzte.

Es gab Zeiten, da hat Jule nach dem Einkaufen im Auto einen Tiger gesehen und in der Küche eine Kuh. "Da ist sie drum herum gegangen, und die Kuh hat ja auch nichts gemacht", sagt Sabine Schuster, 54. Aber ins Auto wollte Jule nicht mehr einsteigen. Da haben sie den Tiger erst einmal in den Schuppen hinten im Garten gesperrt. Und ihn später zu einem netten Wärter bei Hagenbeck gebracht. Da war Jule drei Jahre alt. Seitdem ist der Tiger weg.

Geblieben sind Schlafstörungen und Ängste. Und auch die Wutanfälle, aber die sind seltener geworden.

"Jule ist durchzogen mit Trennungsängsten", sagt Sabine Schuster. Die Pflegemutter ist eine fröhliche und resolute Person. Wer sich mit ihr anlegt, hat eine Löwenmutter zum Gegner. Sie hat mit ihrem Mann Holger, 63, fünf eigene Kinder großgezogen. Holger ist Diplom-Sozialpädagoge. Er hat beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) in Hamburg und in Niedersachsen gearbeitet. Sabine und Holger Schuster (Namen geändert) sind Pflegeeltern, die ihre Rechte zuweilen besser kennen als die Mitarbeiter in den Jugendämtern. Das ist gut für das Kind. Und unbequem für manche Menschen in den Ämtern.

Ängste machen aus Kindern etwas Zerbrechliches. Acht Jahre in der Obhut ihrer Pflegefamilie haben Jule stabilisiert. Sie hatte einen festen Halt. Sie konnte sich der Liebe ihrer Eltern sicher sein. Da war immer jemand, der sie in den Arm nahm, wenn sie weinte und schrie, sobald die bösen Geister kamen.

Dann wechselte die Zuständigkeit im Jugendamt Hamburg-Mitte. 2009 war Lara Mia, neun Monate alt, stark unterernährt gestorben. 2012 starb die elfjährige Chantal, beide Kinder in der Zuständigkeit des Jugendamts Hamburg-Mitte. Und im gleichen Zeitraum führten einige Mitarbeiter einen erbitterten Kampf um ein von Geburt an behindertes Kind. Um Jule, die sie nie persönlich gesehen haben. Mit Pflegeeltern, die alles für ihr Kind taten. Mit einer Pflegemutter, der die Mitarbeiter auf einmal selbst ein krankhaftes Verhalten unterstellten. Ein perfides Machtspiel, ausgetragen auf dem kleinen Rücken eines Mädchens. "Das war wie Krieg", sagt Sabine Schuster. Er dauerte drei Jahre. Er beschäftigte Anwälte und Richter, Ärzte und Bürgermeister. Er hat dazu geführt, dass sich die fast vergessenen Ängste der Trennung wieder in die Kinderseele eingenistet haben.

April 2001

Jule ist vier Monate alt, als Sabine und Holger Schuster vom Jugendamt gefragt werden, ob sie kurzfristig die Pflege für ein schwer traumatisiertes Mädchen übernehmen wollen. Deren Mutter ist laut Protokoll der Erziehungskonferenz alkohol-, drogen- und medikamentenabhängig. Sie leidet unter Schizophrenie und lebt in betreutem Wohnen. Der Vater ist unbekannt.

November 2001

Aus der Bereitschafts- wird eine Dauerpflege. Da hätten die Schusters auch Nein sagen können. Das hatten sie schon getan, als sie nur eingesprungen waren, bis die leibliche Mutter ihre Krise bewältigt hatte oder es eine andere Perspektive für das Kind gab. Bei Jule fielen beide Alternativen weg. "Das wäre auch emotional nicht gegangen", sagt Sabine Schuster. "Jule war wie ein Äffchen. Sie klammerte Tag und Nacht." Sie war ihrer neuen Mutter buchstäblich ans Herz gewachsen. "Ihr könnt Jule doch nicht wieder weggeben", sagten auch die fünf leiblichen Kinder.

Mai 2002

Bei Jule gab es früh erste Anzeichen auf eine Entwicklungsverzögerung. Der zuständige Amtsvormund beantragt beim Versorgungsamt einen Schwerbehindertenausweis. Er wird mit einem Feststellungsbescheid der Schwerbehinderung von 50 Prozent mit den Kennzeichen H (hilflos) und B (Begleitung) ausgestellt. Die Schusters werden als sogenannte Erziehungsstelle für Kinder mit erhöhtem pädagogischen Bedarf anerkannt. Das bedeutet eine monatliche Unterstützung durch den Staat von rund 1300 Euro. Ein Heimplatz kostet rund 4000 Euro pro Monat.

September 2003

Der Amtsvormund lässt ein Gutachten über Jule erstellen. Dr. Stachowske kommt zu dem Ergebnis, dass Jule "aufgrund des komplexen Störungsbildes der Mutter" in ihrer frühen Kindheit "extrem traumatisiert" worden ist.

April 2005

Als der Amtsvormund in den Ruhestand geht, wird die Vormundschaft für Jule auf Holger Schuster übertragen. Frau S. übernimmt als Fachkraft im Jugendamt Hamburg-Mitte die Akte. Bei allen am Hilfeplan Beteiligten besteht in den nächsten Jahren Einvernehmen über Förderungen und Therapien von Jule.

September 2005

Die Schusters nehmen Tim, 10, einen Schulfreund ihres Sohnes, und dessen drei Jahre ältere Schwester Eva (Namen geändert) auf. Sie sind die letzte Rettung für die Geschwister, die ansonsten niemanden mehr haben. Die Schusters kennen Tim schon aus der Vorschule. Seine Mutter ist an einem Hirntumor gestorben, als Tim vier war. Sein Vater war kaum anwesend. Sie lebten beim Großvater, der Holger Schuster irgendwann fragt, ob er nicht die Vormundschaft für Tim übernehmen könne, was im Dezember 2000 geschieht. Als der Opa 2005 stirbt, weigern sich Onkel und Tante, nachdem sie erst eingewilligt hatten, Tim und Eva zu sich zu nehmen. Die Schusters halten Familienrat, räumen ihr Schlafzimmer und ziehen in den Keller, damit Tim und Eva ein Zimmer bekommen.

August 2006

Jule erhält den Nachnamen ihrer Pflegeeltern. Das Vormundschaftsgericht genehmigt die Namensänderung, die laut Jugendamt dem Kindeswohl dient. Mit allen Beteiligten ist geklärt, dass Jule mindestens bis zur Volljährigkeit bei den Schusters bleiben wird.

Oktober 2006

Sabine Schuster wird zum Mitvormund für Jule bestellt. Das Jugendamt erklärt, dass sich die Schusters liebevoll um Jule kümmern und mit großem Einsatz versuchen, die bestmögliche Förderung wegen verschiedenster Entwicklungsstörungen zu erzielen.

Dagegen gestaltet sich das Zusammenleben mit den aufgrund ihrer desaströsen Familiengeschichte schwer vorgeschädigten Geschwistern, die seit 1999 in psychologischer Behandlung sind, schwierig. Tim ist depressiv und lässt niemanden an sich heran. Er hört Stimmen, die ihm befehlen, Gewalt auszuüben. Er klaut, läuft aufs Dach, leidet unter Verfolgungswahn. Das Jugendamt bleibt lange untätig, die Pflegeeltern klagen gerichtlich Hilfe ein. Es ist die erste heftige Auseinandersetzung mit dem Amt, das die Schwere der Traumatisierung von Tim völlig unterschätzt. Schließlich entzieht das Familieninterventionsteam (FIT), eine Art schnelle Eingreifgruppe der Stadt, dem Jugendamt die Akte. Tim wird im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), in Lübeck und in Göttingen/Tiefenbrunn monatelang behandelt. Im UKE versucht er, sich das Leben zu nehmen.

November 2006

Im Kindergarten sagen die anderen Kinder zu Jule, sie sei ja gar nicht die richtige Tochter ihrer Mutter. Sie habe ja eine andere Hautfarbe. Beim Zubettgehen fragt Jule nach der Gute-Nacht-Geschichte: "Papa, bin ich ein Pflegekind?" - "Ja", sagt Holger Schuster. Dann weint sie. Die Pflegeeltern richten sich nach den Ratschlägen der Ärzte. Auf direkte Fragen direkt zu antworten. Und ansonsten zu warten, bis das Kind das Thema von sich aus anspricht.

Februar 2008

Die Hausärztin von Eva empfiehlt der 15-Jährigen die Aufarbeitung ihrer frühen traumatischen Erlebnisse. Eva entzieht sich dem ärztlichen Rat, verlässt die Schusters und lässt sich vom Jugendamt in Obhut nehmen. Zwei Wochen später kehrt Tim aus der Kinderpsychiatrie Tiefenbrunn zurück.

April 2008

Bei einem Nachbesprechungstermin in Tiefenbrunn sagt Tim, dass er ebenfalls nicht mehr bei den Schusters leben wolle, weil er dort geschlagen und zu sportlichen Aktivitäten wie Liegestützen oder Trampolinspringen genötigt worden sei. Er kommt in eine Wohngruppe in Göttingen.

Mai 2008

Holger Schuster wird als Vormund von Tim entlassen, das Jugendamt Hamburg-Mitte wird als Amtsvormund eingesetzt. Gegen diesen Beschluss legt Holger Schuster Widerspruch ein. "Ich war doch die einzige Konstante in seinem Leben." Das Gericht gibt ein Gutachten zu der Beziehung zwischen Tim und Holger Schuster in Auftrag.

Mai 2009

In dem Gutachten über Tim gibt Herr M., Jugendamtsmitarbeiter in Hamburg-Mitte, an, mit Tim im April 2008 gesprochen zu haben. Tim habe gesagt, er wolle auf keinen Fall zu den Pflegeeltern zurück. Dort sei er von Herrn Schuster mit dem Kopf an die Wand geschlagen worden. Aus Angst vor den Pflegeeltern habe er sich möglichst viel in sein Zimmer zurückgezogen. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass das Verhältnis zwischen Tim und Holger Schuster gestört ist. Es stellt weiter fest: "Ebenso ergaben sich hier auch deutliche Hinweise, dass die körperlichen Übergriffe, die Tim zwischenzeitlich als Begründung hervorgebracht hat, nicht stattgefunden haben."

In dem Gutachten erklärt Herr M., "dass er nach der Inobhutnahme von Tim einen Hausbesuch bei der Familie Schuster abgestattet habe". Auffällig sei, dass die weitere Pflegetochter Jule, "die sich noch dort befindet, nun angeblich Verhaltensauffälligkeiten zeigt und weitere Unterstützung braucht".

Wie konnte der Mann vom Jugendamt zu dieser gravierenden Einschätzung kommen? Das fragen sich die Schusters bis heute. "Es gab keinen Hausbesuch von Herrn M. bei uns. Er kannte uns und unser Pflegekind Jule gar nicht", sagen sie. Hat der Jugendamtsmitarbeiter den Gutachter belogen? Und wenn ja, warum?

Juni 2009

Das Verhältnis zum Jugendamt verschlechtert sich. Die Schusters sind irritiert und wütend über die Falschaussagen von Herrn M., sie stellen beim Regionalleiter und beim Landesjugendamt einen Antrag auf Wechsel des Jugendamts. Gut möglich, dass dieser Antrag der Grund für die nun folgende beispiellose Auseinandersetzung ist.

Die Schusters zählen folgende Schwierigkeiten auf: das Verschwinden von Anträgen, gerichtliche Falschaussagen, Vorwurf der Bereicherung und unqualifizierte Fragen von Amtsmitarbeitern wie: "Warum kümmern Sie sich eigentlich um schwer behinderte Kinder, anstatt shoppen zu gehen?" Oder: "Was machen Sie eigentlich mit Ihren Pflegekindern, dass die so auffällig sind?"

Mit Schreiben vom 25. Juni befürwortet Landesjugendamtschef Dr. Wolfgang Hammer "im Sinne einer glückenden Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Pflegeeltern" einen Zuständigkeitswechsel. Er teilt dieses auch der Jugendamtsleiterin in Hamburg-Mitte, Pia Wolters, mit.

Juli 2009

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Mit dem Schreiben vom 13. Juli lehnt Pia Wolters einen Wechsel ab. "Das erscheint mir nicht zielführend." Sie teilt den Schusters stattdessen mit, dass nun beim zuständigen Gericht angeregt werde, ihnen die elterliche Sorge zu entziehen und "das Sorgerecht für Jule an einen Amtsvormund zu übertragen". Dann geht alles ganz schnell.

August 2009

Herr M. vom Jugendamt, obwohl für den Fall Jule gar nicht zuständig, stellt beim Vormundschaftsgericht den Antrag auf Abberufung der Schusters als Vormünder. Grund: Es lege eine deutliche Kindeswohlgefährdung durch die Schusters vor, weil die Pflegemutter das Mädchen zu vielen Ärzten vorgestellt habe. Er unterstellt Sabine Schuster, dass sie zahlreiche Diagnosen gestellt und sich dann Ärzte besorgt habe, die diese nur bestätigt haben. Mit anderen Worten: Die Pflegemutter sei diejenige, welche wegen eines sogenannten "Münchhausen-by-proxy-Syndroms" zu behandeln sei. Sie rede nämlich ihr Kind krank, indem sie ihm ständig ein defizitäres Verhalten vorhalte. "Herr M. verheimlichte dem Gericht die Aktenlage, dass es sich bei Jule um ein von Geburt an behindertes Kind handelt", sagt Sabine Schuster.

Der Antrag im Eilverfahren findet ohne Anhörung statt. Der vom Jugendamt beauftragte Pflegekinderdienst, der die Schusters seit acht Jahren betreut, ist über den Alleingang von Herrn M. nicht informiert - ein Verstoß gegen das Kinder- und Jugendhilfegesetz.

September 2009

Jules Pflegeeltern wird per Beschluss vom 10. September die Vormundschaft durch das Amtsgericht Harburg entzogen. Gründe: "Der Verbleib des Kindes bei den Vormündern stellt eine deutliche Kindeswohlgefährdung dar."

In einer Stellungnahme an das Gericht stellt Herr M. den Zusammenhang zu den ehemaligen Pflegekindern Eva und Tim her. "Bei beiden haben es die Pflegeeltern verstanden, immer wieder Ärzte, Psychologen, Therapeuten usw. zu finden, welche schwere Störungen bescheinigten. Wie sich aus heutiger Sicht zeigt, wurde im System Vormund/Pflegeeltern in Bezug auf die ehemaligen Pflegekinder völlig überzogen gehandelt." Aus Sicht des Jugendamts lege es nahe, hier den Zusammenhang zu sehen. "Jule wurde und wird von Arzt zu Arzt und Therapie zu Therapie gefahren. So vermitteln die Vormünder Jule ein durchweg defizitäres Selbstbild, was mit einer dem Kindeswohl dienlichen Kindheit nicht in Eintracht zu bringen ist."

Jule aber bleibt in der Familie, und Herr M. macht sich - trotz angeblich drohender Kindeswohlgefährdung - auch weiterhin kein Bild vor Ort. Hat er Jule bis dahin kennengelernt? "Nein, nie", sagen die Schusters. Sie wenden sich in ihrer Verzweiflung an den Eingabenausschuss der Bürgerschaft. Sie sprechen von einem "Vernichtungskampf gegen uns Pflegeeltern", von "eklatanten Lügen des Sachbearbeiters Herrn M.", durch die das Gericht "vorsätzlich getäuscht wurde".

Sie schreiben an Bürgermeister Ole von Beust (CDU). Das Jugendamt sei im Begriff, "das Leben von Jule einstürzen zu lassen". Es begehe Körperverletzung an Jule, "die in ein absolut verrücktes Rechtsverfahren involviert wird".

Holger Schuster erstattet Strafanzeige gegen Herrn M. wegen des Verdachts auf vorsätzliche üble Nachrede, Verleumdung, Rechtsbeugung, falsche uneidliche Aussage, falsche Verdächtigung, Unterlassung der Fürsorgepflicht, Körperverletzung an Jule und an den Pflegeeltern.

Januar 2010

Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen hinsichtlich der Strafanzeige von Holger Schuster ein. Begründung: Der bloße unwahre Vortrag eines Jugendamtsmitarbeiters stelle keinen Straftatbestand dar.

In einem Hilfeplangespräch sagt die neue Vormünderin Frau J., sie verstehe nicht, dass Jule in verschiedenen Bereichen Probleme habe, denn sie mache einen wachen und intelligenten Eindruck. Sie meine, dass Jule womöglich nicht genug Kontakt zu Farbigen und deshalb Probleme habe. Die Pflegeeltern erklären, dass Jule in der Schule Kontakt zu Farbigen habe, sich ihre Freundinnen aber nicht nach der Hautfarbe aussuche. Frau J. meint, es sei trotzdem nicht gut, wenn ein dunkelhäutiges Kind von einer weißen Pflegemutter großgezogen werden müsse.

Dr. Reinhold Feldmann von der Uniklinik in Münster bestätigt die Diagnose für Jule: Fetales Alkoholsyndrom (FAS) mit gesicherter Alkoholexposition. "Wir bestätigen hiermit, dass bei Jule keine Kindeswohlgefährdung seitens der Eltern Schuster besteht. Eine Kindeswohlgefährdung besteht allein durch amtliche Nichtanerkennung stehender Diagnosen."

Jules Kinderarzt, der das Mädchen seit 2001 betreut, erklärt, dass niemals der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung bestanden habe. Er sei auch niemals vonseiten des Jugendamts entgegen sonstiger üblicher Verfahrensweisen zu einer entsprechenden Stellungnahme aufgefordert worden.

April 2010

Dr. Hans Kowerk, Dozent für Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE, schreibt ans Jugendamt, dass das Hauptversäumnis von Herrn M. darin bestehe, die von Geburt an bestehende Erkrankung des Mädchens "konsequent zu ignorieren". Außerdem habe er möglicherweise gegen das Gesetz verstoßen, "indem offenbar nicht ein einziges Mal einer der behandelnden Ärzte real zu der Hilfeplanung hinzugezogen wurde". Der Dauerkonflikt "setzt das Kind massiv unter Druck und versetzt es in Ängste, die zu verstärkten Trennungsängsten geführt haben". Das Amtsgerichts Harburg beschließt, dass die Vormundschaft bei den Pflegeeltern verbleibt. Bis auf die Gesundheitssorge, die dem Jugendamt übertragen wird.

Juli 2010

Die Anwältin der Schusters stellt Unterlassungsklage gegen Herrn M. Er solle unwahre Behauptungen, die sich nun auch in Gerichtsakten wiederfänden, nicht weiterverbreiten: Herr M. beziehe sich auf eigenes Wissen. "Über eigenes Wissen indes verfügt er nicht. Er war nicht in einem einzigen Fall für die Familie zuständig! Er hat an keiner Hilfeplanung teilgenommen! Er ist auf keiner Konferenz gewesen! Er hat die Pflegefamilie nie besucht!"

Januar 2011

Der Leiter der Abteilung Amtsvormundschaft im Jugendamt schlägt in einem Schreiben ans Gericht vor, den Pflegeeltern die Vormundschaft einschließlich der Gesundheitssorge zu übertragen. Dies sei zum Wohl des Kindes erforderlich. Die Mitvormundschaft des Jugendamts für die Gesundheitssorge habe sich nicht bewährt und sei im Alltag nicht durchführbar. "Letztlich schadet das unglückliche Nebeneinander dem Kind mehr, als es von Nutzen ist." Wird doch noch alles gut?, fragen sich die Schusters.

Mai 2011

Anhörung vor dem Landgericht zur Klärung der Gesundheitssorge. Herr M. erklärt, die Fälle der Pflegekinder Tim und Eva seien für das Jugendamt Anlass gewesen, hier genauer hinzuschauen. "Es stellte sich bei diesen Geschwistern später vieles als Hirngespinste der Pflegeeltern heraus." Das Landgericht belässt die Gesundheitssorge beim Jugendamt. Die Schusters gehen zum Oberlandesgericht (OLG).

August 2011

Das OLG schlägt eine Mediation vor, ohne diese würde sich "das ganze Dilemma möglicherweise fortsetzen". Das Jugendamt lehnt ab.

Das OLG aber sollte recht behalten. "Nachdem der erste Gerichtsmarathon abgeschlossen war, dachten wir, das war's", sagen die Schusters. Doch prompt folgte das nächste Verfahren.

September 2011

Eva, die ihre Pflegefamilie 2008 verlassen hat, ist inzwischen 19 Jahre alt. Sie stellt Strafanzeige gegen die Pflegeeltern. Vorwurf: Misshandlung von Schutzbefohlenen. Sie erklärt, dass sie und ihr Bruder Tim von den Pflegeeltern misshandelt worden seien. Ihr Bruder sei oft geschlagen worden, habe nichts zu essen bekommen und durfte sein Zimmer nicht verlassen. Am Ende der Zeugenvernehmung sagt sie noch, dass sie vom Jugendamt erfahren habe, dass die kleine Jule noch immer in der Familie ist. Sie habe Angst, dass ihr was Schlimmes passiert. "Die können die doch nicht in der Familie lassen."

Die Frage ist, wer vom Jugendamt mit Eva Kontakt gehabt und ihr dieses - verbotenerweise - erzählt hat?

Herr M. gibt einen Tag später bei der Polizei zu Protokoll, dass sich noch ein Pflegekind bei den Schusters befinde und es erhebliche Probleme mit den Pflegeeltern gebe. Es würde aber "zurzeit keine Möglichkeit" geben, das Mädchen aus der Familie zu nehmen.

November 2011

Hilfeplangespräch im Jugendamt. Die Schusters sagen, Herr M. habe am Ende seine rechte Hand an seinem Hals vorbeigezogen. Eine Geste, die wohl signalisieren sollte, dass er sie "kaltmachen" würde. Gleich darauf sagt Herr W., die neue Fallkraft für Jule, dass das Jugendamt neue Informationen zur akuten Kindeswohlgefährdung habe. Jule müsse deshalb am 22. oder 23. November in der Rechtsmedizin des UKE untersucht werden. Einen Grund nannte er nicht. Wenn ein Jugendamt das anordne, müsse es gemacht werden. Frau L. vom Pflegekinderdienst ist schockiert. Sie ist nicht über diese einschneidende Maßnahme informiert worden.

"Da haben wir gemerkt, dass sie uns Jule wirklich wegnehmen wollten", sagen die Schusters. Der Kampf um das Kind geht in die entscheidende Runde. Denn nach der Strafanzeige der ehemaligen Pflegetochter und der daraus resultierenden Aufforderung zur Zwangsbegutachtung von Jule verweigert das Jugendamt dem Mädchen nun auch noch seine von drei Fachärzten für wichtig gehaltenen Medikamente.

Dr. Kowerk warnt vor einer zwangsweisen Vorstellung von Jule im UKE. "Diese Zwangsmaßnahmen erscheinen mir völlig unbegründet und im Hinblick auf die medizinisch-psychiatrische Behandlung deswegen kontraproduktiv, weil nicht auszuschließen wäre, dass sie sich traumatisch auf das Kind auswirken und bisherige Behandlungserfolge zunichte machen." Dies sei auch deshalb zu erwarten, weil der Gesundheitspfleger im Hilfeplangespräch mitgeteilt habe, die vom Neurologen angeordnete Medikation "schlichtweg so lange einfach abzusetzen", bis er sich in die Materie eingearbeitet habe.

Dezember 2011

Die "Zwangsbegutachtung" im UKE wird auf den 6. Dezember festgelegt. "Jule, der man auch noch die Medikamente untersagt hat, ist ausgeflippt", sagen die Schusters. "Sie wollte weglaufen, schloss sich ein, wollte aus dem Fenster springen und klammerte sich ans Treppengeländer." Sie hatte einen Zusammenbruch und musste zu ihrem Kinderneurologen. Eine Stunde vor dem Termin wird die Begutachtung abgesagt. "Wir hatten Glück, dass die Rechtsmedizinerin im UKE die Arztberichte von Jule vorher gelesen hatte und feststellte, dass es sich um ein krankes Kind handelt, dem solch eine Begutachtung gar nicht zuzumuten war", sagen die Schusters. "Das Jugendamt hat nichts ausgelassen, um Jule zu quälen."

Jule sei dann drei Wochen nicht in der Lage gewesen, zur Schule zu gehen. Die Tortur aber geht weiter.

Dr. Feldmann schreibt, dass FAS-Kinder oft unauffällig oder aufgrund ihrer Eloquenz, die aber mit einem geringen Sprachverständnis einhergeht, begabt erscheinen. Diese überfordernden Situationen gingen mit aggressiven oder autoaggressiven Durchbrüchen im geschützten familiären Rahmen einher. "Aufgrund der hirnorganischen Schädigung können die Kinder diese Durchbrüche selbst nicht steuern. Fachlicherseits ist das beschriebene Verhalten gut bekannt, sodass die Erklärung seitens des Jugendamts, die Eltern berichteten von 'Hirngespinsten', bedrohlich unprofessionell wirkt." Jule brauche vor allem medikamentöse Hilfe. "Eine Medikation mit Risperidon ist in der Regel zwingend erforderlich." Sie brauche dauerhaft einen geschützten Rahmen im Elternhaus, "der nicht durch stete Verunsicherungen und Bedrohungen beschädigt werden darf". Diese Bemühungen des Jugendamts würden Jules Entwicklung stark gefährden.

Der zuständige Gesundheitspfleger Herr H. stimmt einer Medikation von Jule mit Risperidon nicht zu.

Dr. Feldmann schreibt: "Hamburger Jugendämter übertragen sich zunehmend ärztliche Aufgaben und Kompetenzen. Mir hatte der seinerzeit zuständige Senator Wersich versichert, dieses Geschehen zu unterbinden. Erfolgt ist leider nichts." Es sei nicht Aufgabe von Herrn H., "nach laienhafter Lektüre des Beipackzettels" einer Medikation nicht zuzustimmen. Feldmann: "Ein solcher Fall von jugendamtlicher Kindeswohlgefährdung ist mir aus langjähriger Praxis nicht bekannt."

Januar 2012

Am 16. Januar stirbt die elfjährige Chantal in der Wilhelmsburger Wohnung ihrer drogensüchtigen Pflegeeltern an einer Methadon-Vergiftung. Sie war vom Jugendamt seit 2008 bei den drogenabhängigen Pflegeeltern untergebracht. Pia Wolters und Bezirksamtschef Markus Schreiber müssen gehen.

Februar 2012

Die Schusters kämpfen gegen die Vorwürfe der Misshandlung. Der Kinderarzt, der Tim acht Jahre lang untersucht hat, und die Physiotherapeutin bestätigen, es habe "niemals der Verdacht auf Misshandlung des Jungen" bestanden.

Die langjährige Haushaltshilfe der Schusters erklärt an Eides statt, dass in der Familie alle Kinder gleich behandelt wurden. Dass für Eva eine schöne Konfirmationsfeier ausgerichtet wurde. Dass sie zu Weihnachten Tanzkursus und Tanzschuhe bekam. Dass die Pflegeeltern zu Tim in die Klinik nach Göttingen fuhren, obwohl der kranke Vater von Frau Schuster seinen 85. Geburtstag feierte. Dass es aber massive Probleme gab, weil Tim ins Zimmer urinierte, sich weigerte, die Kleidung zu wechseln, und oft das Essen verweigerte. Und dass sie die Gelassenheit bewunderte, mit der die Pflegeeltern alle Probleme angingen. "Jeder Konflikt wurde umsichtig und gewaltfrei bewältigt."

Ein Betreuer des Familien-Interventionsteams, der Tim ein halbes Jahr begleitete, berichtet an Eides statt: "Ich deckte mit Eva und Jule den Tisch. Eva forderte ihren Bruder auf zu helfen. Er ging zur Schublade, holte ein Brotmesser heraus. Damit ging er auf seine Schwester und Jule los. Ich konnte Tim das Messer abnehmen. Jule war völlig aufgelöst,und Eva weinte. Sie sagte, dass Tim solche Messerangriffe, als sie beim Opa lebten, oft getan hat. Sie hatte große Angst, mit Tim alleine zu sein."

Der Kinderpsychologe aus Münster, dem Tim fünf Monate nach Aufnahme in der Familie vorgestellt wurde, schreibt: "Es wurde deutlich, dass Tim in der Herkunftsfamilie erhebliche traumatische Erfahrungen der fehlenden Annahme, der Vernachlässigung, des Geschlagenwerdens und wohl auch des sexuellen Missbrauchs erlitten hatte, die zu weitreichenden Störungen der Persönlichkeitsentwicklung geführt hatten." Die Pflegeeltern würden differenziert das Kind wahrnehmen. Es sei "höchst unwahrscheinlich", dass Misshandlungen angesichts der hohen Außenkontrolle (Schule, Therapeuten, stationäre Behandlungen) verborgen geblieben wären. Dagegen käme es öfter zu "Übertragungsprozessen unverarbeiteter Traumata auf die Pflegeeltern". Würde man aufgrund der vorgebrachten Anschuldigungen die elfjährige Jule aus der Familie nehmen, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch diesem Kind ein kaum wiedergutzumachender Schaden zugefügt würde."

Einen Tag später klingelt der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) bei den Schusters. Es ist Sonnabend, der 18. Februar. Die Schusters sind mit Jule auf einem Geburtstag. Der 17 Jahre alte Sohn, der mit einem Freund zu Hause ist, öffnet. Eine Frau und ein Mann sagen, sie kämen vom Jugendamt und wollten zu Jule. Der Sohn sagt, er wolle versuchen, seine Eltern zu erreichen. Die Besucher erklären, sie würden in einer halben Stunde wiederkommen. 30 Minuten später klingeln sie erneut. Sie sagen, sie kämen jetzt alle halbe Stunde, um Jule zu holen. Dem Sohn wird die Sache unheimlich. Er schleicht mit dem Freund in den Garten. Von dort laufen sie zu einem Edeka-Markt, verstecken sich in einer Mülltonne und rufen eine Freundin an. Die parkt in einer Nebenstraße. Sie versteckt die Jungs auf ihrem Rücksitz und sieht, wie die KJND-Mitarbeiter hektisch nach den beiden suchen. Drei Tage später entschuldigt sich Herr W. vom Jugendamt für das Vorgehen des KJND. Der Auftrag dazu sei "von ganz oben" gekommen.

Das Familiengericht beschließt, ein Gutachten zu erstellen, um zu klären, "ob das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Jule gefährdet ist, wenn sie bei den Pflegeeltern verbleibt".

Juli 2012

Das Gutachten kommt zu folgendem Schluss: Das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Jule ist nicht gefährdet, wenn sie bei den Pflegeeltern verbleibt. Der Aufenthalt von Jule in der Pflegefamilie ist abzusichern. "Jedes andere Handeln würde eine Gefährdung des Kindeswohls, und zwar dann im Sinne einer sekundären Kindeswohlgefährdung durch Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe, bedeuten." Massiv kritisiert der Gutachter das Jugendamt. Seitens des ASD sei ein Verfahren zum Entzug der Vormundschaft mit einer deutlich vorgetragenen Besorgnis der Kindeswohlgefährdung vorangetrieben worden, "ohne dass zwischen Mai 2008 und Februar 2012 auch nur ein persönlicher Kontakt zu dem betreffenden Kind bestand bzw. nunmehr unverzüglich hergestellt wurde". Dem Gesundheitspfleger Herrn H. wirft der Gutachter vor, vor Gericht im Dezember 2011 erklärt zu haben, ihm fehle die Zeit, um Jule persönlich kennenzulernen. Und gleichwohl im Februar 2012 eine Fremdunterbringung von Jule bis zum Abschluss des Verfahrens in Erwägung zu ziehen.

September 2012

Das Amtsgericht Tostedt erlässt folgenden Beschluss: "Das Gericht folgt dem überzeugenden Gutachten."

Jule darf in ihrer Familie bleiben.

Oktober 2012

Die Schusters wollen ein Gespräch mit dem neuen Jugendamtsleiter Peter Marquardt. Dazu kommt es nicht, es gibt auch keine Entschuldigung. Auch ein Gesprächswunsch des Abendblatts wird ignoriert. Die Schusters sagen, dass sich die Anwalts- und Folgekosten auf 25 000 Euro summiert haben. Woher sie die Kraft nehmen? "Was bleibt uns denn übrig?", fragt Sabine Schuster. "Jule ist doch unser Kind, wir können sie doch nicht aufgeben." Sie haben das irgendwie überstanden. Die Beleidigungen, Falschaussagen und horrenden Kosten. Vielleicht haben sie sich auch gesagt: Was ist das alles gegen das, was Jule in den ersten vier Monaten ihres Lebens durchgemacht hat.

Nach Aussagen der Großmutter hat diese kurz nach Jules Geburt mit ihrer Tochter und dem Baby einen "kalten Entzug" durchgeführt, indem sie beide in ein Zimmer eingesperrt hat. Für ein Neugeborenes sind das unvorstellbare Qualen und Todesängste. Oftmals, wenn die Großeltern den ganzen Tag außer Haus waren, bekam Jule von ihrer Mutter die vier von der Oma vorbereiteten Babyflaschen nicht. Und weil die Mutter die wahnhafte Vorstellung hatte, ein Säugling könne laufen, hat sie Jule in den ersten vier Monaten mehrfach auf die kleinen Beinchen gestellt.

Jule ist immer wieder gestürzt, hat geweint und geschrien. Wenn Jule schrie, hat ihre Mutter sie mit kaltem Wasser übergossen. So hatte es die Oma mit ihrer Tochter auch gemacht.