Wer erleben möchte, wie die Schanze noch vor zehn Jahren aussah, sollte einen Ausflug ins Reiherstiegviertel in Wilhelmsburg machen.

Hamburg. Dieses eine Straßenschild könnte die ganze Geschichte erzählen: "Fährstraße" steht in weißen Buchstaben auf dem blauen Emaillegrund. An den Ecken blättert die Farbe ab. Quer über die Buchstaben prangt ein kleiner, runder Aufkleber. "AKW Brunsbüttel stilllegen", heißt es darauf. Und damit sind schon symbolisch alle Eckpunkte vereint, die diese Straße heute prägen: Mit der Fähre kamen um 1900 die Ausflügler aus Hamburg zum Reiherstieg, der damals noch ein beschaulicher Seitenarm der Elbe war. Wohlhabende Wilhelmsburger wohnten in den properen Gründerzeithäusern am Ende der Fährstraße. Noch heute säumen nahezu lückenlos diese Altbaufassaden und dichte Baumreihen die Straße. Ein irritierendes Bild gelegentlich, so dicht liegt die Fährstraße an Containerlagern und Hafenkränen - als hätte jemand ein Stück Eimsbüttel in den Hafen transplantiert. Nach der Sturmflut 1962 zogen aber viele der bürgerlichen Familien wieder weg. Einwanderer kamen nach, weil es nun billig war, hier zu wohnen. Erste Zeichen des Verfalls zeigten sich bald - so wie heute noch an dem Straßenschild. Seit einigen Jahren kommen nun aber auch die Studenten und die Investoren. Die einen, weil sie hier günstig wohnen können. Die anderen, weil sie auf ein zweites Ottensen oder eine zweite Schanze setzen, wo es dann irgendwann nicht mehr so günstig ist. Viele Fassaden der Häuser haben daher wieder frische Farbe, manche Gebäude im unteren Teil der Straße sind komplett an junge WGs vermietet. Einige dieser Villen standen zuvor noch leer. Die Dichte der Aufkleber mit Parolen wie die der Anti-Atomkraft-Bewegung dürfte hier mittlerweile so hoch sein wie in Uni-Nähe.

Aber ist die Fährstraße damit bereits Teil eines neuen Szeneviertels in Hamburg? "Es ist wie die Schanze vor zehn Jahren, aber noch lange kein Schickimicki", sagt Florence Kroll. Erst vor Kurzem ist die junge Frau mit den rot gefärbten Haaren mit ihrem Studium fertig geworden. Und vor knapp einem Jahr ist sie von Altona hierher gezogen. So wie viele jüngere Leute aus den angesagten Vierteln. Ganze WGs sind geschlossen umgezogen, erzählt man sich hier an der Fährstraße, wo es noch einigermaßen günstig sei zu wohnen: 200 Euro für ein WG-Zimmer, statt 350 wie auf St. Pauli, das ist der Unterschied. "Und es passiert hier viel, neue Projekte gibt es, neue Läden kommen", sagt Florence Kroll.

Aber da ist immer noch die andere Seite der Straße, von der die junge Frau auch erzählt. Die Seite des sozialen Brennpunkts: die Säufer etwa, heruntergekommene Gestalten, die sich draußen treffen, trinken, lärmen und in die Ecken pinkeln. Oder Nachbarn, die Sperrmüll in den Vorgarten schmeißen. "Als Frau wird man hier schon einmal auf der Straße angemacht", erzählt Florence Kroll. Vor drei Wochen ist sie Mutter geworden und überlegt daher, doch wieder über die Elbe zu ziehen. "Ohne Kind würde ich hier bleiben. Mit Kind - das weiß ich noch nicht. Ist vielleicht doch noch zu rau hier."

Elfriede Tramp und Margot Garvs haben sich daran längst gewöhnt, seit Jahrzehnten schon betreiben die beiden Schwestern an der Fährstraße ihren kleinen Kiosk. Vor 44 Jahren hatte ihn Margot Garvs übernommen, kurz nach der Flut und in einer Zeit, als die Erosion der vielen kleinen Läden hier begann. "Ja, früher, da war das mal die Straße in Wilhelmsburg, das ist vorbei - aber es ändert sich gerade wieder", sagt Margot Garvs. Jetzt verkaufe sie auch immer mehr die ",Süddeutsche' und solche Zeitungen", nicht nur die bunten Blätter. "Die jungen Leute hier lesen so etwas" sagt sie und lacht laut. Rot sind ihre Lippen geschminkt, das Haar frisiert. Über 70 sei sie nun, doch in ihrem Laden will sie bleiben, sagt sie und lacht wieder. Auch ihre Schwester lacht, ein helles, fröhliches Lachen, das weit auf die Straße schallt. Die beiden haben viel Spaß in ihrem Kiosk.

Ein paar Häuser weiter sitzen zwei Männer beim Kaffee vor dem türkischen Kulturverein. Die Türken haben so etwas wie eine Kultur des Draußensitzens in die Fährstraße und das Reiherstiegviertel gebracht. Gemüseläden, Ramschbasare zeigen ihre Ware draußen. Es ist eine lebendige Straße, eine Straße mit Leben. "Bei uns kann jeder Mitglied werden, nicht nur Türken", sagt Vereinsvorsitzender Cengiz (39). Auch Bier und Wein gibt es dort. Einen Euro kostet die Flasche Astra. Aber wie lange noch?

Längst gibt es auch eine heftige Diskussion über die Zukunft des Viertels. Vor allem in der linken Szene, die sich im "Info-Laden" an der Fährstraße trifft. Gut zu erkennen an den vielen politischen Botschaften, die als Aufkleber am Schaufenster die richtige Gesinnung verkünden. Gegen Gentechnik ist man hier, gegen Atomkraft sowieso. Und natürlich gegen die "Gentrifikation". Ein Schlagwort, das dem englischen Wort für Gentle, niederer Adel, entlehnt ist, und die Verdrängung von Altmietern in einem gerade angesagten innerstädtischen Viertel durch zahlungskräftigere Neubewohner beschreibt. Eine Entwicklung, die gerade durch die Umwandlung in Eigentumswohnungen in vielen Hamburger Stadtteilen passiert und vor der nicht wenige an der Fährstraße Angst haben.

Doch noch ist die Fährstraße von einem solchen Szenario ein gutes Stück entfernt, meint die junge Mutter Florence Kroll. "Wenn, würde das noch etliche Jahre dauern, noch ist es sehr spannend hier zu wohnen", sagt sie. Aber wer weiß? Vielleicht spricht sich das in der Stadt ja schneller herum, als mancher an der Fährstraße es mag. Die Hamburger Rundfahrt-Doppeldeckerbusse fahren jedenfalls mit Touristen nicht mehr nur an Alster und Landungsbrücken vorbei, sondern auch komplett durch die Fährstraße. Man kann die Fahrt erst seit Kurzem buchen. Ihr Name: "Entdeckertour".

2. September: Stübeheide (Ohlsdorf)

4. September: Beselerstraße (Groß Flottbek)

7. September: Strandweg (Blankenese)