Die norddeutschen Jugendherbergen feiern ihr 100-jähriges Bestehen am Stintfang. Seitdem hat sich vieles verändert: Man hlt Pizza aus dem Automaten und darf an die Wand kritzeln.

Hamburg. Der hartleibige Herbergsvater ist Geschichte. Die Türen schließen inzwischen vollautomatisch. In Hamburgs bekanntester Jugendherberge auf dem Stintfang genügt ein scheckkartengroßes Stück Plastik – und die Türen gehen auf. Nach 22Uhr streicht dort jedenfalls niemand mehr mit dem klimpernden Schlüsselbund durch die Flure, um die Mehrbettzimmer einzeln abzusperren. Die Moderne hat Einzug gehalten und das Klischee verdrängt. Auch der Mythos Jugendherberge lebt nicht ewig. Neuerdings gibt es sogar Pizza-Automaten und offiziell erwünschte Wandkritzeleien.

„Message-Room“ nennt sich das Achtbettzimmer, in dem es immer noch riecht wie früher, aber die Wandbotschaften in der Gegenwart angekommen sind: „Ich liebe Franzbrötchen!“, steht dort mit schwarzem Filzstift über dem Etagenbett geschrieben. Herbergsvater Sven Seidler gefällt es. Bald soll das Zimmer selbst zum Kunstwerk werden. Außen ist das Hafenpanorama seit eh und je über jeden Zweifel erhaben. Der Blick auf Stadt und Hafen machen den Stintfang zur erfolgreichsten von 47 Herbergen im Landesverband Nordmark. Zum Hafengeburtstag etwa war das Haus nach 30 Minuten ausgebucht. Ansonsten sind die 375 Betten zu knapp 80 Prozent ausgelastet.

Am Donnerstag feierte der Landesverband Nordmark sein 100-jähriges Bestehen im Haus. Lehrer aus Schleswig-Holstein und Hamburg hatten den Vorgängerverein im Jahr 1914 in Altona gegründet. Zur Feier des Tages gab es in der 1953 eröffneten und inzwischen rundum erneuerten Erfolgsherberge warme Worte statt Früchtetee. Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele schnitt sogar eine Himbeertorte an und würdigte die Arbeit des Jugendherbergswerks als „wichtig und richtig“. Denn seit 100 Jahren werden junge Menschen in norddeutschen Jugendherbergen gefördert. „Sie lernen sich kennen und verstehen“, sagte Scheele. Mit dem Wegfall der meisten Reisebeschränkungen auch über den nationalen Tellerrand hinaus.

Von Sylt bis Ratzeburg übernachteten mehr als 1 Million Menschen

Dabei stand am Anfang aller Jugendherbergen ein Gewitter im Rhein-Sieg-Kreis. Der Legende nach geriet der Lehrer Richard Schirrmann im August 1909 mit seinen Schülern bei einer Wanderung in ein Unwetter. Und weil die Gruppe nicht bei Bauern unterkam, sondern Schutz in einer leeren Schule suchen musste, sah sich Schirrmann inspiriert, ein Netzwerk aus Herbergen im Abstand von einem Tagesmarsch anzulegen. Und das passte in die Zeit: Denn im Zeitalter der voranschreitenden Industrialisierung gab es eine tiefe Sehnsucht der Jugend nach Natur und Romantik, etwa in der Wandervogel-Bewegung. Dort wurde eine eigene Lebensart begründet, die sie sich von den engen Vorgaben des gesellschaftlichen Umfelds löste. Im Grunde stellte das Jahr 1909 den Beginn folgender Jugendbewegungen dar.

Bis heute ist der Zuspruch der Jugendherbergen ungebrochen hoch. Von List auf Sylt bis Ratzeburg übernachteten im Jahr 2013 mehr als 1,1 Million Menschen in den 47 Herbergen des Jugendherbergsverbandes Nordmark. Seit den 80er-Jahren sei die Gästezahl im Norden nie unter die magische Eine-Million-Grenze gefallen. Ganz oben in der Gunst stehen dabei die beiden Hamburger Unterkünfte – die 1964 eröffnete Großherberge an der Horner Rennbahn (408 Betten) und die bekannte Attraktion auf dem Stintfang (375 Betten). Internationale Gäste machen etwa 20 Prozent der Besucher aus. 20 bis 25 Euro pro Nacht bei exzellenter Sicht verfehlen ihre Wirkung bei Backpackern nicht. „Nach den Stadtunterkünften sind die küstennahen Herbergen gefragt“, sagt Geschäftsführer Helmut Reichmann. Aber auch die Unterkünfte in Kiel oder Lübeck seien gut besucht.

Insgesamt hätten sich die Gebäude im Lauf der Jahre dramatisch verändert, sagt Reichmann. „Dagegen sind die Motivation und der Kern der Jugendherbergen die gleichen geblieben.“ Nach wie vor gehe es um die Begegnung von Menschen. Wie früher lerne man in fast zwangloser Umgebung, ohne dass man es merke, Fremde kennen. Auch deshalb richte sich das Angebot vorrangig an Schulklassen. Mit 40 Prozent aller Übernachtungen sind und bleiben Heranwachsende die Hauptklientel. Erst danach kommen Familien, Einzelgäste und Seminargruppen.

Auf dem Stintfang kann Herbergsvater Sven Seidler alle Bedürfnisse abdecken. Von Drei- bis Achtbettzimmern reichen die Kapazitäten. Rund 50 Mitarbeiter kümmern sich um die Bedürfnisse der Reisenden. „Wer hier arbeitet, ist stolz auf den Job, die Aussicht und das Gefühl, das im Haus herrscht“, sagt Seidler. Und die meisten Gäste wissen das zu schätzen. In einschlägigen Bewertungsportalen im Internet sind die Kommentare zur Hamburgs beliebtester Jugendherberge zu 90 Prozent positiv. Bei der Festveranstaltung wurde allerdings auch ein Irrläufer verlesen. Ein Gast beschwerte sich allen Ernstes über den Blick und die schlechte Lage. Eine Einzelmeinung.