Essen. Noch immer werden Menschen nach den Erdbeben in der Türkei vermisst. Unser Reporter hat das Schicksal seiner Großeltern aufgeschrieben.

Die Zahl der Opfer nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei steigt weiter, noch längst sind nicht alle Verschütteten geborgen, nicht alle Toten registriert, nicht alle Überlebenden in Sicherheit. In der Türkei, aber auch weltweit warten Angehörige auf Nachrichten von Vermissten.

In Deutschland haben rund drei Millionen Menschen familiäre Wurzeln in der Türkei. Einer von ihnen ist Metin Gülmen, Chefreporter des Online-Portals „Der Westen“, das wie diese Redaktion zur FUNKE Mediengruppe gehört. Seine Großeltern lebten bis zum Morgen des 6. Februar in einem Haus mitten im Erdbebengebiet. Was seither geschah, hat Gülmen aufgeschrieben.

Von Metin Gülmen

Der Tag, der das Schicksal meiner ganzen Familie verändern sollte

Es war ein Montagmorgen, der 6. Februar 2023, der das Schicksal meiner ganzen Familie verändern sollte. Mein Handy vibrierte morgens auffällig oft. Als ich es in die Hand nahm, sah ich direkt die Nachricht vom Erdbeben in der Türkei. Dass auch Hatay, die Heimat meiner Eltern, betroffen ist, konnte ich zunächst kaum realisieren. Schon gar nicht das Ausmaß, die Zerstörung, der Verlust von geliebten Menschen, der noch folgen sollte. Mich erreichte eine Flut an Nachrichten – von Verwandten und Freunden, die sich in Sicherheit bringen konnten. Erleichterung machte sich in mir breit. Die nur Stunden später Angst, Ohnmacht und Verzweiflung wich.

Dass auch meine Großeltern in Gefahr sind, hatte ich erstmal nicht für möglich gehalten. Ihr Haus war groß und für türkische Verhältnisse relativ modern gebaut. Ich dachte nicht daran, dass es eingestürzt sein könnte. Wenn doch selbst alte Häuser anderer Betroffener noch standen. Doch das änderte sich, als mir ein Foto vom Haus meiner Großeltern zugeschickt wurde. Es glich einer Ruine.

Haus meiner Großeltern völlig zerstört

Der Toyota Corolla von Opa, den ich in all meinen Aufenthalten vor Ort selbst gefahren bin, war von Schutt überdeckt. Vom Erdgeschoss war nichts mehr zu sehen. Mir stockte der Atem, als ich realisierte, dass das Hausstück, welches noch intakt aussah, das Obergeschoss ist. Das in einem Stück auf das Erdgeschoss runtergekracht sein muss. Ich betrachtete das Foto, mir wurde schlagartig klar: Meine Großeltern sind dort drin, verschüttet, hilflos, orientierungslos, verletzt. Niemand kann sie rausholen. Rettungsteams und schweres Gerät zur Bergung sind hier selbst Tage später nicht verfügbar.

In meiner ganzen Familie herrschte schnell Panik. Uns allen ist bewusst geworden, dass Hatay, dass unser Antakya, das antike Antiochia am Orontes, nicht mehr existiert. Hunderte Gebäude sind wie Kartenhäuser eingestürzt, Straßen und Gegenden, in denen ich in all den Jahren unterwegs war, sind von Trümmern, Schutt und Geröll überdeckt. Nach Montag glich nichts mehr dem wunderschönen Ort, an dem ich so viele Erinnerungen gesammelt habe. Not, Tod und Elend breiteten sich stattdessen aus. Mittendrin meine geliebten Großeltern.

Großvater (Mitte), und Großmutter (links) von Metin Gülmen (rechts), verschüttet beim Erdbeben in der Türkei Februar 2023.
Großvater (Mitte), und Großmutter (links) von Metin Gülmen (rechts), verschüttet beim Erdbeben in der Türkei Februar 2023. © Privat | Privat

Schicksal von Opa und Oma zunächst ungewiss

Wir wussten nicht, wie es Opa und Oma geht, all ihre Kinder (mein Vater, meine beiden Tanten und meine fünf Onkel) leben in Deutschland. Sie waren also allein, wenngleich Nachbarn und Verwandte schnell nach ihnen schauten. Es kam Hoffnung auf, als die Haushälterin meiner Großeltern Opas Stimme in den Trümmern hörte. Omas allerdings nicht. Zeitgleich sind mein Vater und einer meiner Onkel von Düsseldorf aus in Richtung Hatay aufgebrochen.

Am späten Dienstagabend (7. Februar) dann das kleine Wunder: Opa wurde gerettet, Nachbarn hatten mit Spitzhacke, Schaufel und bloßen Händen einen kleinen Tunnel gegraben, aus dem Opa dann befreit werden konnte. Als das Erdbeben wütete, hatte er es schon fast aus dem Gebäude geschafft. Nur wenige Meter trennten ihn noch von der Straße. Für endlos wirkende Stunden war er im Eingangsbereich gefangen. Die Trümmer hatten ihn glücklicherweise nicht voll erwischt. Das Foto von Opa, wie er verletzt auf einem Stuhl saß, verängstigt, perplex und voller Schock blickend, bricht mir das Herz.

Lesen Sie hier: Erdbeben in der Türkei: Das Elend der Überlebenden

Meine geliebte Oma starb in Trümmern

Was nach seiner Rettung mit Opa geschah, wo er sich jetzt aufhält, wissen wir nicht. Er wurde von einem Nachbarn ins Krankenhaus gebracht, dort fuhr ihn dann die Gendarmerie woanders hin. Der hilfsbereite Nachbar durfte nicht mitfahren, da er mit Opa nicht verwandt ist. Seitdem fehlt jede Spur von Großvater. Wir wissen nicht, in welcher Stadt er ist, ob er in einem Krankenhaus liegt oder in einem Altenheim. Ob er in einer Turnhalle für Erdbeben-Opfer oder gar in einem Feldlazarett untergebracht wurde. Die Suche hält bis heute noch an. Immerhin lebt er.

Dieses Schicksal teilt meine geliebte Oma nicht. Sie wurde am Mittwoch (8. Februar) leblos unter den Trümmern geborgen. Sie war nur knapp hinter Opa. Es fehlte nicht viel und auch sie wäre im „sicheren“ Eingangsbereich gewesen. Die Wand neben ihr war eingestürzt, sie starb wohl an Ort und Stelle. Sie war relativ fit, hatte einen klaren Kopf, war unglaublich interessiert am politischen Weltgeschehen. Am Donnerstag (9. Februar) wurde sie in ihrem Heimatdorf bestattet. Wenigstens diese Ehre konnten wir ihr inmitten der Katastrophe zuteilwerden lassen.

Metin Gülmen’s Großvater wurde nach dem Erdbeben in der Türkei von seinen Nachbarn aus den Trümern seines Hauses gerettet.
Metin Gülmen’s Großvater wurde nach dem Erdbeben in der Türkei von seinen Nachbarn aus den Trümern seines Hauses gerettet. © Privat | Privat

Wir beten, dass Opa erkannt und gefunden wird

Inzwischen sind zwei weitere meiner Onkel nachgeflogen, insgesamt zu viert suchen mein Vater und seine Brüder in diesen Stunden nach Opa. Auf Namenslisten von Krankenhäusern taucht er nicht auf, meine Onkel haben sogar einzelne Krankenhäuser Zimmer für Zimmer abgeklappert. Ich schreibe diese Zeilen für Opa. Für meinen mutigen Opa, der als Gastarbeiter in den 70er-Jahren allein nach Deutschland kam, um seiner Familie ein neues Leben zu ermöglichen. Diese Familie wünscht sich nichts mehr, als wieder mit ihm vereint zu sein.