Junge Amokläufer kündigen ihre Tat meist vorher an. Ein Berliner Wissenschaftler untersucht in einer Studie frühe Anzeichen für Schulmassaker.

Ansbach/Berlin. Die Tat war für den 17. September geplant. „Apocalypse today“ nannte der 18-jährige Amokläufer Georg R. aus Ansbach in seinem Kalender diesen Tag, an dem er schließlich zehn Menschen verletzte. Der Schüler soll nach Angaben der Staatsanwaltschaft schon seit April 2009 eine Art Tagebuch geführt haben, in dem er seine Pläne für das gewalttätige Vorgehen gegen Mitschüler und Lehrer minuziös beschrieb. Nur selten geschehen Amokläufe wie diese aus dem Affekt heraus. Sie reifen als Idee manchmal sogar über Jahre hinweg, hat Herbert Scheithauer herausgefunden. Der Psychologieprofessor der Freien Universität Berlin hat nicht nur untersucht, wie sich Täter vor Schulmassakern verhalten haben. Er nahm in seiner Studie, die kurz vor dem Abschluss steht, auch die Gewaltandrohungen von Kindern und Jugendlichen unter die Lupe, in der Wissenschaft Leakings genannt. Sie sind mögliche Indizien für eine spätere Tat.

Vor fünf Jahren war der Juniorprofessor darauf aufmerksam geworden, dass junge Täter in den USA ihre Amokläufe an den Schulen häufig vorher ankündigten. „Leaking“ heißt das Phänomen dort seit 1999 – abgeleitet von dem englischen Begriff „to leak“: etwas durchsickern lassen, leckschlagen. Daraus entstand am „Arbeitsbereich Angewandte Entwicklungspsychologie“ der Berliner Universität die Idee, „ob man nicht bei diesen Leaking-Phänomenen ansetzen könnte, um eine Früherkennung solcher Taten“ zu ermöglichen, erzählt Scheithauer.

In Deutschland haben im vergangenen Jahrzehnt zehn Schüler und Schülerinnen Lehrer und Mitschüler erschossen – oder dies versucht. Weltweit hat es bis Mitte 2007 rund 100 solcher Vorfälle gegeben, schätzen Scheithauer und seine Mitarbeiter. „School Shooting“ nennen sie diese Form „schwerer zielgerichteter Schulgewalt“. Den gängigen Begriff des „Amoklaufs“ halten sie für irreführend, weil dieser vermuten lässt, der Täter sei plötzlich durchgedreht.

Eine große Bandbreite von Leakings beobachteten die Wissenschaftler, als sie sich durch die Gerichtsakten von Fällen in Deutschland oder die Ermittlungsakten angedrohter Taten arbeiteten. Sie untersuchten darüber hinaus die Gewaltmeldebögen der Berliner Schulen und befragten Hunderte von Lehrern an acht Schulen der Hauptstadt. Neben direkten Leakings gibt es solche indirekter Art, hat Rebecca Bondü festgestellt, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts. Manche Schüler erzählen Freunden von ihren Plänen oder stellen ihre Idee ins Internet. Andere schreiben Sprüche auf die Klowand, zeichnen eine Gewalttat oder schreiben im Schulaufsatz darüber.

„Es sind oftmals nicht diese konkreten Androhungen wie ’Ich lauf morgen Amok’ oder ’Ich bring euch alle um’. Sondern es sind vielfach diese langsam vor sich hin wabernden Situationen, wo ein Jugendlicher auf seine Befindlichkeiten hinweist, ohne aber direkt zu sagen, was ihn eigentlich beschäftigt“, erklärt Scheithauer. So interessieren sich manche Schüler für Waffen, tragen Tarnkleidung oder sammeln Zeitungsausschnitte über Schulmassaker.

Die meisten Leaker sind männlich, bestätigen die Forscher wissenschaftliche Erkenntnisse aus den USA. Ein Auslöser können familiäre Probleme sein, etwa die Scheidung der Eltern. Außerdem konnte Scheithauer bei Tätern Anzeichen sozialer Isolation feststellen. Sie sahen häufig Gewaltvideos und kamen leicht an die Waffen ihrer Väter heran. Eine massive negative Lebenserfahrung wie ein Schulverweis kann dann das Fass zum Überlaufen bringen. Für Deutschland fand Rebecca Bondü einige Besonderheiten. Anders als in anderen Ländern zählten zu einem großen Teil Lehrer zu den Opfern, was auf unterschiedliche Tatmotivationen hindeutet. Auch haben sich im Vergleich zu anderen Ländern die Amokläufer häufiger nach der Tat umgebracht oder es versucht. In Deutschland werden zudem öfter ehemalige Schüler gewalttätig. Sie hegen offenbar noch lange Zeit negative Gefühle gegenüber der Schule.

Nicht jeder Schüler, der Gewalt ankündigt oder sich für Waffen interessiert, wird gefährlich. „Aber man kann zumindest sagen, dass es vielleicht nicht normal ist, wenn ein Schüler Gewaltfantasien hat. Und man könnte hier den nächsten Schritt einleiten und mit dem Schüler intensiver arbeiten“, fordert Herbert Scheithauer. Deshalb plant der Professor in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Projekt im Oktober auf die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg auszuweiten. Mit dem Pilotprojekt „NETWASS – Networks against School Shootings“ will Scheithauer Gewalt an Schulen durch Information und Vernetzung vorbeugen. Denn Lehrer und Schüler, weiß der Experte, sind extrem verunsichert.